Das Interview
führte Martin Krieger (aus "Main-Spitze" vom 04.04.2020)
KÖLN/ANTWERPEN -
Dass erstmals in der 124-jährigen Geschichte Olympische Spiele wegen des
Coronavirus verschoben werden mussten, ist nicht nur mit erheblichen
finanziellen Folgen verbunden. Müssen zahlreiche Sportlerinnen und Sportler nun
überdenken, ob sie den hohen Aufwand bis zum 23. Juli und 8. August 2021 weiter
betreiben und die Berufsausbildung hintanstellen können, sehen sich alle
Bundestrainer vor die spezielle Aufgabe gestellt, die auf 2020 ausgelegten
Planungen zu überdenken. Stellvertretend geben Xavier Reckinger (Damenhockey)
und Richard Trautmann (Männerjudo) Einblicke in ihre Gedanken- und Gefühlswelt.
Herr Trautmann,
Herr Reckinger – Hand aufs Herz: Als am 24. März feststand, dass Olympia 2020
kein Thema mehr sein würde, haben Sie da Erleichterung oder eher Frust verspürt?
Trautmann: Zuerst
waren da gemischte Gefühle. Einerseits war man auf den Termin ja total
fokussiert, andererseits hatte sich eine Verschiebung angedeutet. Bei mir hat
sich dann aber doch Erleichterung breitgemacht, zumal ja auch recht bald für
terminliche Klarheit gesorgt wurde.
Reckinger:
Innerlich war im ersten Moment schon Frust da. Aber auf der anderen Seite war es
einfach wichtig, dass es nach der aufgekommenen Unsicherheit Ruhe gab. Und
natürlich war die Verschiebung alternativlos, wenn es aufgrund gesundheitlicher
Risiken nicht möglich ist, so ein Event für die Weltbevölkerung vernünftig zu
organisieren.
Muss ihren Olympiatraum ein Jahr
zurückstellen: Hockeyspielerin Pauline Heinz |
Mit der exakten
Terminierung der Spiele in 2021 hat sich das IOC ja noch acht Tage Zeit
gelassen. Hätten Sie sich einen früheren Zeitraum gewünscht?
Reckinger: Jeder
Termin hätte Vor- und Nachteile gehabt. Dass es Ende Juli in Japan heiß sein
wird, wissen wir und werden vorbereitet sein. Wir werden frühzeitig anreisen,
und dann dürfte das Klima kein großes Thema sein. Wäre es auf Februar/März
hinausgelaufen, hätten wir damit aber auch gelebt.
Trautmann: Für uns
ist der Termin und die Verschiebung um fast exakt ein Jahr vollkommen okay. Wir
kämpfen ja in voll klimatisierten Hallen, und das Wetter spielt deshalb keine
Rolle. Ohnehin sind wir in dieser Jahreszeit oft zu Trainingslagern in Japan.
Aber zweifellos wäre Olympia zur Kirschblütenzeit auch schön gewesen.
Wie haben die
Ihnen anvertrauten Sportlerinnen und Sportler auf die Verlegung reagiert?
Trautmann:
Grundsätzlich hätten alle gerne gehabt, wenn sich das wie geplant hätte
durchziehen lassen. Reagiert wurde schon verschieden, bedingt vor allem durch
den Qualifikationsmodus. Die gut Platzierten haben relativ entspannt gewirkt.
Andere haben nun die Sorge, dass das Qualifikationssystem wieder ganz neu
aufgemacht wird. Allgemeiner Tenor war aber, dass eine vernünftige und vor allem
faire Vorbereitung aufgrund der unterschiedlichen Ausprägung und Handhabung der
Krise nicht mehr gewährleistet war.
Reckinger: Die
Reaktionen waren sehr unterschiedlich. Manche haben gar kein Problem damit
gehabt, die Maßnahme als richtig empfunden und den Blick gleich nach vorne
gerichtet. Andere haben schon emotional und enttäuscht reagiert und die
persönlichen Auswirkungen durchgespielt. Und bei manchen ist es vielleicht noch
gar nicht richtig angekommen, dass Olympia nun erst in 16 Monaten sein wird.
Aber ich kann sagen, dass alle Spielerinnen vorbildlich reagiert und sich
beispielsweise gleich für das nächste Studiensemester angemeldet haben.
Sie hatten beide
ja einen klaren Plan für die restliche Zeit bis zum Sommer. Muss nun alles über
den Haufen geworfen werden beziehungsweise haben Sie schon einen neuen
Marschplan für die kommenden knapp 16 Monate im Kopf?
Reckinger: Wir
werden einen ganz neuen Plan A machen, müssen aber noch abwarten, da viele Dinge
sehr unsicher sind. Ende Mai etwa steht noch eine Maßnahme in Argentinien auf
dem Programm, von der ich ausgehe, dass sie abgesagt wird. Was wird mit der
Bundesliga, der EM oder dem internationalen Spielverkehr? Dazu wollten wir mit
dem besten Team die Hallen-WM 2021 bestreiten, wozu wir uns nun auch eine neue
Strategie überlegen müssen, da die Olympiakandidatinnen in diesem Winter ja
bewusst auf Hallenhockey verzichtet hatten. Die Früchte hat man übrigens sehen
können, denn die waren so fit wie nie. Das Einzige, was wir jetzt schon richtig
planen können, ist, dass wir wieder neun Tage vor Beginn der Olympischen Spiele
anreisen und dort noch zwei Testspiele bestreiten wollen. Stand jetzt, soll elf
Tage nach Olympia eine Feldhockey-EM stattfinden...
Trautmann: Einen
neuen Plan habe ich noch nicht erstellt. Keiner weiß ja, wie lange die Krise
geht und wann wieder in einen geregelten Trainingsbetrieb eingestiegen werden
kann. Sollte es Oktober werden, beschäftigt mich aktuell eher die Frage, was
machen wir bis dahin? Und was wird etwa aus der EM Ende November, und fließt das
in die Olympia-Qualifikation mit ein? Es gibt einfach noch sehr viele
Unwägbarkeiten. Sollte es irgendwann ‚normal‘ weitergehen, dann gibt es
gegenüber dem bisherigen Plan nur wenig zu korrigieren. Aber natürlich sind wir
auch davon abhängig, dass andere Nationen bei Trainingslagern oder Wettkämpfen
in gleicher Weise mit uns kooperieren.
Können Sie sich
vorstellen, dass es Leute in Ihren bisherigen Kadern gibt, die den zeitlichen
und finanziellen Aufwand nicht weitere zwölf Monate auf sich nehmen können oder
wollen?
Trautmann:
Grundsätzlich ist es ja so, dass es bei uns nicht um wirklich viel Geld geht.
Keiner unserer Olympiakandidaten nagt am Hungertuch, alle werden gut durch die
Sporthilfe gefördert und erfahren breite Unterstützung bei ihrer Ausbildung
durch Bundes- und Landespolizei oder die Bundeswehr. Manche Studenten müssen
vielleicht einen neuen Plan stricken, aber auch da bin ich zuversichtlich. Dass
Freistellungen nicht automatisch verlängert werden, ist klar, aber da sind wir
in guten Gesprächen, zumal dieses Programm ja aufgelegt worden ist, um
olympische Medaillen zu holen. Von der Bundeswehr sind schon klare Signale
gekommen, und bei der Polizei werden sich bestimmt Kompromisse finden lassen.
Reckinger: Bislang
habe ich keine Absage aus meinem vorläufigen Olympiakader bekommen. Sicherlich
haben es manche einfacher als andere, für sich eine optimale Vorbereitung zu
gewährleisten. Ich gehe aber fest davon aus, dass mehr als 95 Prozent der
Spielerinnen das durchziehen werden.
Das IOC hat
durchklingen lassen, dass der Ist-Zustand in Sachen Qualifikation möglichst
beibehalten werden soll. Deckt sich das mit Ihrer Haltung und können Sie das
eins zu eins umsetzen?
Reckinger: Jetzt
gibt es überhaupt keine Grundlage, neue Leute dazuzunehmen. In Deutschland wird
ja seit Ende Oktober kein Feldhockey mehr gespielt. Und ich bin vollkommen
überzeugt, dass der 24er-Kader die besten Spielerinnen umfasst. Alle bleiben
also weiter dabei, und es wird auch vorerst niemand gestrichen. Ich kann und
will aber nicht ausschließen, dass sich eventuell jemand mit tollen Leistungen
aufdrängt. Da wäre ich schlecht beraten, das zu ignorieren. Möglich ist auch,
dass die Gruppe gegen November hin wieder etwas größer wird.
ZU DEN PERSONEN |
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Der 36 Jahre
alte Xavier Reckinger hat zwischen 2002 und 2014 in 326 Länderspielen
das Nationaltrikot Belgiens getragen. Der Abwehrspieler, in Brüssel geboren
und in Antwerpen zu Hause, wurde 2012 Olympia-Fünfter und ein Jahr später in
seinem Heimatland EM-Zweiter. Seit Oktober 2017 betreut der zweifache
Familienvater das deutsche Damen-Nationalteam und führte es bei der EM 2019
in Belgien zu Silber sowie in der Folgezeit souverän nach Tokio.
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Richard
Trautmann zählte als Superleichtgewichtler Mitte der 90er-Jahre zu den
besten deutschen Judoka. Der gebürtige Münchner erkämpfte sich bei den
Olympischen Spielen 1992 und 1996 sowie bei der WM 1993 jeweils die
Bronzemedaille. Nach Stationen als Vereins-, Landes- und DJB-Jugendtrainer
stieg der 51-Jährige am 1. Januar 2017 zum Männer-Bundestrainer auf. Seither
hält er sich häufig in Köln auf, da sich dort das DJB-Bundesleistungszentrum
befindet.
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Trautmann: Wenn
sich niemand verletzt, wird es bei den gleichen Leuten bleiben. Wir müssen
allerdings abwarten, was die IJF (Internationale Judo-Föderation, Anmerkung der
Redaktion) für den Qualifikationszeitraum beschließt, der sich eigentlich von
Mai 2018 bis Mai 2020 erstreckte. Sollte das auf drei Jahre ausgeweitet werden,
könnten sich über Grand-Prix-Turniere zwangsläufig Veränderungen in der
Weltrangliste und Olympia-Qualifikation ergeben.
Von den beiden
Rüsselsheimer Tokio-Kandidaten war Eduard Trippel ja bereits vom Deutschen
Judo-Bund fest nominiert, während Pauline Heinz sich noch mit 23 weiteren
Hockeyspielerinnen um 18 Plätze streiten musste. Bedeutet das, dass Trippel
weitgehend beruhigt sein kann, während Heinz sich weiterhin voll reinhängen
muss?
Trautmann: Der
Eduard kann schon relativ entspannt sein, da es in seiner Gewichtsklasse
national aktuell noch keine so große Konkurrenz gibt. Die entscheidende Frage
ist, ob die Olympia-Qualifikation noch einmal aufgemacht wird, aber selbst dann
ist es aufgrund seiner hohen Punktzahl ziemlich unwahrscheinlich, dass er da
noch rausfallen könnte. Für ihn bringt die Verschiebung zudem zwei Vorteile mit
sich: Er hat ein Jahr Zeit, sich zu entwickeln, und er weiß länger, um wen es in
Tokio geht und wie er sich taktisch mit den Gegnern auseinandersetzen muss. Was
seine Ausbildung bei der Polizei angeht, sollte er die frei gewordene Zeit dazu
nutzen, Dinge jetzt vorzuziehen und etwa mal ein achtwöchiges Praktikum zu
machen.
Reckinger: Pauli
soll einfach genauso weitermachen wie bisher und sich körperlich
weiterentwickeln. Sie weiß, was sie tun und üben muss. Für eine junge Spielerin
ist der Zeitgewinn sicherlich kein Nachteil, aber auf der anderen Seite bleibt
Olympia für sie weiterhin das erste große Turnier.
In beiden
Sportarten steht aktuell in den Sternen, was aus der Bundesligasaison wird.
Spielt das für Sie im olympischen Kontext überhaupt eine Rolle?
Reckinger: Eine
qualitativ hochwertige Bundesliga ist aufgrund der wöchentlichen Belastung das
wichtigste Zusatzelement für mich. Und das Nationalteam und die Bundesliga
befruchten sich bei gutem Niveau ja gegenseitig. Ich hoffe deshalb sehr, dass
das alles vernünftig geplant werden kann und die Vereine, die ja auch schwere
Zeiten durchmachen, die Bundesliga genießen können. Selbstverständlich steht
Olympia über allem, denn wenn das deutsche Hockey dort Erfolge feiert, dann ist
das für die Fördergelder enorm wichtig.
Trautmann: Die
Bundesliga ist uns Bundestrainern ein Dorn im Auge. Da unsere Topathleten so
wahnsinnig viele internationale Wettkämpfe haben, ist es uns wichtig, dass sich
alle erholen, wenn sie denn schon mal zu Hause sind und sich nicht durch das
Abnehmen für die Bundesliga zusätzlich stressen. Wir haben uns darauf
verständigt, dass die Topleute erst nach den Saisonhöhepunkten für ihre Vereine
antreten, wenn etwa die Finalrunden anstehen.
Das Olympiajahr
und das Abschneiden dort sind ja häufig an die Vertragslaufzeiten der
Bundestrainer gekoppelt. Kann es sein, dass sich die Verschiebung für Sie unter
diesem Aspekt sogar gelohnt hat?
Trautmann: Das ist
momentan schwer zu beantworten, aber unserem Präsidium ist schon klar, dass
etwas passieren muss. Unsere Verträge laufen normalerweise immer im
Olympiazyklus, mit Option auf Verlängerung. Ich gehe davon aus, dass der Ende
des Jahres auslaufende Vertrag erst einmal um ein Jahr verlängert wird.
Grundsätzlich würde ich gerne weitermachen. Es ist zwar ein anstrengender und
nicht unbedingt familienfreundlicher Job, macht aber auch sehr viel Spaß.
Reckinger:
Tatsächlich läuft mein Vertrag am 31. August 2020 aus, aber wir sind schon seit
Dezember in sehr gute Gespräche für die Zeit danach eingestiegen. Das läuft beim
DHB wirklich sehr wertschätzend und vorausschauend. Es sind noch einige
administrative Dinge zu klären, da ja auch nicht hauptamtliche Leute zum Staff
gehören und berufliche Dinge regeln müssen. Aber Stand jetzt, fahren wir mit der
gleichen Gruppe 2021 nach Tokio. Ich freue mich, weiter mit den Mädels arbeiten
zu können.