Von Martin Krieger
(aus "Main-Spitze" vom 9. Februar 2019)
Diese Situation
hätte eine rheinische Frohnatur wie Norbert Boll liebend gerne vermieden. "Denn
von den Darmstädtern wird bestimmt erwartet, dass ich zu ihnen halte", sagt der
61 Jahre alte IT-Sicherheitsexperte. Gleichwohl seit fast 42 Jahren "Heiner",
schlagen zwei Herzen in der Brust des gebürtigen Duisburgers, wenn an diesem
Sonntag um 12 Uhr das "Abstiegs-Endspiel" in der Zweiten Hockey-Bundesliga Süd
zwischen TEC Darmstadt und dem Rüsselsheimer RK in der Sporthalle des
Berufsschulzentrums im Bürgerpark Nord angepfiffen wird.
Schließlich ist
Boll Mitglied in beiden Vereinen, hat in seiner Glanzzeit mit dem RRK zwei
deutsche Meistertitel gefeiert und gewann beim Feld-Europacup Silber und Bronze.
Seine aktive Laufbahn ausklingen lassen hat er in den 90er Jahren dann
allerdings überwiegend in verschiedenen Teams des Tennis- und Eis-Clubs (TEC),
dessen Anlage er dank einer Wohnstätte in der Nieder-Ramstädter-Straße seit 23
Jahren fußläufig in wenigen Minuten erreicht.
Dass es am Sonntag
unweigerlich auf die Rückstufung eines seiner Stammklubs in dir Drittklassigkeit
hinausläuft, dies hätte sich der ehemalige Jugend- und Junioren-Nationalspieler
des Club Raffelberg schwerlich ausmalen können, als er zum Wintersemester 1977
sein Lehramtsstudium (Biologie und Sport) an der TH Darmstadt aufnahm. "Das war
ungefähr mein 17. Wunsch bei der ZVS. Aber ich wollte unbedingt weiter
Bundesliga spielen, und da ich Alfred Segner vom Junioren-Nationalteam kannte,
ist es der RRK und nicht der SC 80 Frankfurt geworden", berichtet Boll.
Trotz einer anfangs
beschwerlichen Zugfahrt mit Umsteigen in Bischofsheim und der Rückfahrt um 23.16
Uhr ein sportlich lohnender Wechsel. Bereits im Juni 1978 trug er zum 2:0-Sieg
des RRK im Endspiel der Feld-DM gegen Gastgeber Gladbacher HTC bei. Anfang März
1979 folgte der 17:8-Triumph gegen den gleichen Gegner im Hallen-Endspiel in
Heidelberg vor 2.500 Zuschauern. Da Teamkollege Christoph Krehl nach einer
Gelben Karten im Halbfinale tags zuvor gesperrt war, spielte Boll neben seinem
"Idol" und Spielertrainer Fritz Schmidt – der Rüsselsheimer Bäckermeister war
Olympiasieger 1972 und langjähriger Kapitän des Nationalteams – 60 Minuten in
der Abwehr durch, steuerte zwei Treffer bei und heimste hervorragende Kritiken
ein.
Bolls Weg ins
A-Nationalteam schien programmiert, und der damalige Bundestrainer Klaus Kleiter
hatte ihn auch im Auge – bis bereits 1980 massive Beschwerden in beiden
Hüftgelenken auftraten. "Eine angeborene Fehlstellung; ich hätte wohl als Baby
eine Spreizhose tragen müssen", glaubt Boll.
Obwohl er nach
einer halbjährigen Pause zurück ins Bundesligateam des Rüsselsheimer Ruder-Klubs
(RRK) kehrte und dort bis zu seinem Wechsel zum TEC eine wertvolle Stammkraft
blieb, war der Traum von einer WM, EM oder gar Olympia dahin. "Wenigstens einmal
hätte ich so etwas gerne erlebt." 1981 stand er noch einmal im Hallen-Endspiel,
in dem sich die Rüsselsheimer vor heimischem Publikum aber Titelverteidiger TG
Frankenthal 7:10 beugen mussten. "Wenn man an diese Erfolge denkt, ist das für
den RRK jetzt am Sonntag schon eine Frage der Ehre", sinniert Boll.
Während sich der
Kontakt in seine Geburtsstadt auf ein jährliches Abi-Treffen des Sportgymnasiums
beschränkt, griff er für die RRK-Senioren immer mal wieder zum Schläger. Zuletzt
2005, als bei einem internationalen Turnier das "Münchner Kindl" mit nach
Rüsselsheim wanderte. "Ich hatte wirklich eine tolle Zeit dort, obwohl ich bei
den ersten Übernachtungen mit Familienanschluss zugegebenermaßen nicht jedes
Wort verstanden habe", scherzt Boll. Nach neuen Hüftgelenken 2010 und 2016 ist
Hockey inzwischen passé, "aber ein bisschen Tennis und Radfahren geht noch".
So das Wetter am
Sonntag nicht zu schlecht ist, dann dürfte Norbert Boll sich auch im Sattel
sitzend dem Bürgerpark Nord nähern. Der für ihn emotional extrem unangenehmen
Situation des "Abstiegs-Endspiels" aus dem Weg zu gehen, kam nicht infrage. "Ich
gehe auf alle Fälle dahin, werde aber einfach versuchen, insgesamt ein bisschen
ruhiger zu sein." Sollte es dann doch ab und an mit ihm durchgehen, dürfte das
dem stets gut gelaunten RRK- und TEC-Mitglied in den beiden Lagern bestimmt
niemand krumm nehmen.