Andere Teenager verzieren die Wände ihrer Zimmer mit den Postern von
Popgruppen, Schauspielern oder Fußballteams. Bei Nicole Loeck sind es Urkunden.
14 hessische Meisterschaften - sieben in der Halle und sieben auf dem Feld -,
zwei süddeutsche und zwei DM-Titel hat die 17jährige mit verschiedenen
Nachwuchs-Hockeyteams des Rüsselsheimer Ruder-Klubs (RRK) gesammelt. Darüber
hinaus zählte sie beim Gewinn der deutschen Meisterschaft 1997 (Feld) und 1998
(Halle) sowie den Europacup-Siegen 1998 (Halle und Feld) zum Aktivenaufgebot des
Bundesligavereins. Das allein wäre vielleicht noch nichts besonderes. Was die
Erfolge der Berufsschülerin gegenüber allen ihren Mitspielerinnen aufwertet, ist
der Umstand, daß die junge Torhüterin des RRK von Geburt an praktisch gehörlos
ist.
Die angehende Modellbaumechanikerin hat ein Resthörvermögen ab 95 Dezibel.
Das entspricht in etwa jener Lautstärke, ab der ein tieffliegendes Flugzeug
jegliches Gespräch unterbindet. Zwei Hörgeräte und die Fähigkeit, von den Lippen
ablesen zu können, helfen Nicole Loeck, sich im Alltag zurechtzufinden. Auf dem
Hockeyfeld müssen ein wachsames Auge, ein überdurchschnittliches Reaktions- wie
Antizipationsvermögen - das frühzeitige Erkennen einer Situation - wettmachen,
was ihre Mitspielerinnen oft allein über das Gehör erkennen können. Etwa, wenn
ein Ball nicht richtig getroffen oder von einem Schläger abgefälscht wird. „Ich
sehe das", sagt Nicole Loeck. Gleiches gelte für die Pfiffe der Schiedsrichter,
die sie - trotz der Hörgeräte - selten wahrnimmt. „Wenn die anderen aufhören zu
spielen, höre ich auch auf." Probleme habe es deshalb aber noch nie gegeben.
„Als Nicole zum ersten Mal im Training war, hat uns unser Trainer erklärt, daß
sie nicht gut hören kann und daß wir sie beim Sprechen anschauen müssen, damit
sie sehen kann, was wir sagen", erinnerte sich Mitspielerin Jana Schwärzel. Dies
habe sich bislang aber noch nie nachteilig auf das Spiel ausgewirkt. „Wir haben
uns daran gewöhnt, daß wir bei ihr nicht einfach was nach hinten rufen können,
sondern abwarten müssen, bis sich dafür Zeit ergibt. Wir haben uns darauf
eingestellt", sagt die Jung-Nationalspielerin.
Seit ihrem zehnten Lebensjahr steht Nicole Loeck beim Ruder-Klub zwischen den
Pfosten, nachdem sie sich zuvor fünf Jahre lang im Fußballtor versucht hatte.
Als sie nicht mehr mit den Jungs zusammenspielen durfte, sah sie sich nach einem
neuen Betätigungsfeld um. Von den Kniffs und Tricks, die ihr die frühere
Nationaltorhüterin Bianca Heinz verriet, habe sie anfangs sehr profitiert. Und
inzwischen hat sie den einen oder anderen Einsatz im RRK-Bundesligateam hinter
sich. „Aber da bin ich wegen der vielen Zuschauer immer noch viel zu aufgeregt".
Die 1:1-Situationen - egal ob beim Penalty, den kurzen Ecken oder aus dem Spiel
heraus - sind es, die Nicole besonders mag: „Es macht mir Spaß, herauszulaufen,
vor allem in der Halle", sagt sie. Auf dem Feld lasse sie sich von der Härte der
Schüsse zuweilen noch etwas abschrecken. „Die holen manchmal aus wie mit einem
Baseballschläger."
Bei der süddeutschen Jugend-Hallenmeisterschaft Ende Februar in Mannheim war es
Nicole Loeck gewesen, die ihrem Team den Finaleinzug und damit auch vorzeitig
das DM-Ticket sicherte. Sie hielt im Turnierverlauf fünf Penalties und wurde
damit ihrem Ruf als „Siebenmeter-Killerin" einmal mehr gerecht und später zur
besten Torhüterin gewählt. Und daß das RRK-Team zwei Wochen später in Goslar
nach vier Unentschieden nicht über Rang fünf hinauskam, lag ebenfalls nicht an
ihr. „Nicole hat gut gehalten. Wir haben unsere Chancen nicht genutzt", sagt
Jana Schwärzel.
Dies hat wohl auch Juniorinnen-Nationaltrainer Heino Knuf so gesehen, der die
Keeperin aufgrund der gezeigten Leistungen neben fünf weiteren RRK-Talenten zum
zentralen U 18-Lehrgang vom 19. bis 23. März ins Bundesleistungszentrum des DHB
nach Köln eingeladen hat. „Sie hat sich kontinuierlich weiterentwickelt, und
daher ist diese Berufung auch ausschließlich sportlich begründet. Man kann gut
mir ihr arbeiten, weil sie immer sehr konzentriert ist. Und natürlich ist es
eine positive Erfahrung, daß trotz einer Behinderung leistungsorientierter Sport
möglich ist", sagt Knuf. Vor zwei Jahren war sie schon einmal eingeladen worden.
„Damals waren meine Laktatwerte aber zu schlecht", erinnert sich Nicole Loeck.
Damit die Berufung ins Nationalteam nicht noch einmal an mangelnder Fitneß
scheitert, geht sie neben den üblichen drei Trainingseinheiten pro Woche seit
einiger Zeit fast jeden Tag joggen - „obwohl Laufen eigentlich nicht so mein
Ding ist".
Auch in anderer Hinsicht hat sich die ehrgeizige junge Frau dem Sport zuliebe
umgestellt. Salat etwa habe sie früher nie gegessen - bis RRK- und
Damen-Bundestrainer Berti Rauth sie darauf hingewiesen habe, daß das gesund sei.
„Nun essen wir bergeweise Salat", sagt Loeck. Was tut man nicht alles für seinen
großen Traum, die Olympischen Spiele. „Auf keinen Fall Sydney 2000, aber
vielleicht 2004 in Athen". Ein Grund mehr, warum die Auszubildende bei der Adam
Opel AG den Tagen in Köln entgegenfiebert. Im Gegensatz zu den Übungseinheiten
im Verein gebe es dort ein spezielles Torwarttraining. Mögliche Fortschritte
werden ihre Mitspielerinnen beim RRK am ehesten zu spüren bekommen.