Elisabeth
Einecke-Klövekorn trifft Holger Kraft (aus "https://theatergemeinde-bonn.de",
Juni 2018)
Aktuell hat er viel
zu tun. Am Abend nach unserem Gespräch spielt er wieder den Investor und ein
paar andere Figuren im Bonnopoly-Sumpf und am Tag darauf geht er als Einstein
wieder baden mit den Physikern. Außerdem laufen gerade die Endproben zu Elfriede
Jelineks Wut. Holger Kraft ist sehr begeistert von der Arbeit mit dem Regisseur
Sascha Hawemann, der zum ersten Mal in Bonn inszeniert. "Natürlich gibt es auch
in diesem Text keine festgeschriebenen Figuren. Aber das Stück ist sehr viel
klarer als Abraumhalde, das ja als Sekundärdrama zu Nathan konzipiert ist und
dann assoziative Bögen mit zum Teil ziemlich kryptischen Anspielungen schlägt.
Wir haben eine Weile gebraucht, bis wir Vertrauen in Jelineks Text gewannen.
Sehr geholfen haben uns Schauspielern das Bühnenbild und die Kostüme. Wir haben
dann bei allen Vorstellungen wieder Neues entdeckt." Die kurzweilige
Inszenierung von Simone Blattner kam fast auf den Tag genau ein Jahr vor Wut
heraus, das mit den Anschlägen auf "Charlie Hebdo" und einen jüdischen
Supermarkt deutliche Bezugspunkte hat.
Für den
Schauspielerberuf entschied sich Holger Kraft erst relativ spät. Als Schüler war
er passionierter Hockey-Spieler in der Opelstadt Rüsselsheim, wo er 1971 zur
Welt kam. "Unsere Herren-Mannschaft spielte in der 1. Bundesliga und war
mehrfach Deutscher Meister. Mit 16 bestritt ich mein erstes Bundesliga-Spiel und
träumte schon von Olympia. Für die Nationalmannschaft hat’s dann aber doch nicht
ganz gereicht." Kurz vor dem Abitur mit dem Leistungsfach Sport wirkte Kraft mit
in einer Schultheater-Gruppe. Sein erstes Stück war Tankred Dorsts Komödie "Der
gestiefelte Kater oder Wie man das Spiel spielt" nach Ludwig Tieck. "Wir waren
eine große Gruppe von verschiedenen Schulen. Erstaunlich viele, mit denen ich
immer noch Kontakt habe, wählten künstlerische Berufe."
Kraft engagierte
sich weiter in freien Theaterprojekten und verdiente sein Geld bei der
Lufthansa. "Als Bodenpersonal, oft am Check-in-Schalter am Frankfurter
Flughafen. Als LH-Mitarbeiter konnte ich billig fliegen, was ich gern nutzte,
weil ich andere Kontinente kennenlernen wollte. Es klingt irgendwie romantisch,
aber als Backpacker in Costa Rica lernte ich meine Frau kennen, eine
Agrarwissenschaftlerin aus Montreal. Wir sind dann zusammen weiter gereist." Die
gemeinsame Tochter ist mittlerweile 15 und zweisprachig (Deutsch und Englisch)
aufgewachsen. Die Familie wohnt in der Nähe von Rüsselsheim.
Das Theater ließ
ihn dennoch nicht los, so dass er sich schließlich für eine Schauspielausbildung
entschloss. Nach einigen Vorsprechen bekam er 1996 einen Studienplatz an der
renommierten Hochschule für Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy
Leipzig und absolvierte dort 2000 sein Examen. Zu seinen jüngeren Kommilitonen
dort gehörte u.a. Sören Wunderlich. Krafts erstes festes Engagement folgte am
Theaterhaus Jena unter der Leitung von Claudia Bauer, die in der kommenden
Spielzeit erstmals in Bonn inszenieren wird. In ihrer Regie spielte er u.a. in
"Fight Club" nach dem Roman von Chuck Palahniuk und dem gleichnamigen Film sowie
in "Triumph der Provinz" von Felicia Zeller, die er zu den für ihn besonders
prägenden Autorinnen zählt. Ebenso wie Marc Becker, dessen Fußballstück Wir im
Finale 2004 in Jena uraufgeführt wurde. Regie führte Christian von Treskow,
der ihn später nach Wuppertal holte. In Jena lernte Kraft seine heutige Bonner
Kollegin Sophie Basse und die Regisseurin Alice Buddeberg kennen. Unter anderen
auch mit Basse gründete er 2007 in seiner Heimatstadt Rüsselsheim das
unabhängige interdisziplinäre Theater "sechzig90", zu dem später neben Buddeberg
auch Daniel Breitfelder stieß.
Von 2007 bis 2009
arbeitete Kraft am Theaterhaus Stuttgart und danach drei Jahre lang am
Wuppertaler Schauspiel. "Es war schon ziemlich bitter, dort gleich mit
Schließungsplänen konfrontiert zu werden. Immerhin ist die Schauspielsparte
nicht ganz verschwunden."
Kraft arbeitete
dann eine Zeitlang frei, gastierte an verschiedenen Bühnen, war in TV- und
Kinoproduktionen zu sehen und lehrte an der Akademie der Darstellenden Kunst in
Ludwigsburg. "Bonn kam ganz unerwartet, aber ich habe meine Zeit hier noch keine
Sekunde bereut. Viele Leute hier kannte ich schon; es gibt so ein menschliches
Grundvertrauen im Ensemble, was auch viel Energie spart." Kraft gastierte 2016
als Karrierejurist Johannes bei der Uraufführung von Thomas Melles "Bilder von
uns". Die Werkstattproduktion in der Regie von Alice Buddeberg wurde zu mehreren
wichtigen Theaterfestivals eingeladen. Seit der Spielzeit 2016/17 ist Kraft fest
am Schauspiel Bonn engagiert und bleibt gern weiterhin hier.
Seinen Einstand gab
er in der Uraufführung von Fritz Katers "Love you, Dragonfly", wieder in der Regie
von Buddeberg. "Ein echtes Geschenk war der große Monolog von Robert/Roberta."
Mit dieser tragikomischen Transgender-Vision eroberte er das Bonner Publikum in
den Kammerspielen im Sturm. Sehr erfolgreich war auch Ibsens "Frau vom Meer", in
der er den Doktor Wangel verkörperte. "Inszenierungen von Martin Nimz hatte ich
schon als Student gesehen und war sehr glücklich, nun erstmals mit ihm zu
arbeiten.“
Zu Beginn der laufenden Spielzeit folgte
"Bonnopoly".
"Fast fertig erarbeitet
hatten wir das schon vor der Sommerpause bei Saunatemperaturen in unserem Beueler
Probenraum. Der Regisseur Volker Lösch fordert auf der Bühne extreme
Genauigkeit, was ziemlich anstrengend ist. Großartig fand ich die Leistung des
Autors Ulf Schmidt, der sich durch Mengen von Material arbeiten musste. Zumal
jeder Satz juristisch überprüft werden musste. Auf das Ergebnis dieser Mühen bin
ich tatsächlich stolz."
Er spielt noch den
Einstein in Dürrenmatts Physikern in der Regie von Simon Solberg. Sehr
interessierte ihn auch "Der letzte Bürger" von Thomas Melle, den er schon seit
einigen Jahren kennt. Er verkörperte den scheinbar fest im Leben stehenden Sohn
Jasper. "Leider haben wir das Stück nur sechs Mal gespielt."
Holger Kraft ist
ein Schauspieler, der kritisch hinschaut und gern andere Sichtweisen untersucht:
"Wir müssen an die Wurzeln der Gesellschaft gehen und uns dafür nicht
entschuldigen oder als Bittsteller auftauchen. Was man auf der Bühne sagt und
tut, hat eine Relevanz, die sich sicher nicht in jeder Vorstellung vermittelt.
Aber eine Gesellschaft verliert sich selbst, wenn sie 2.500 Jahre Theater und
Literatur aufgibt. Die Forderung, dass Kultur sich finanziell selbst tragen
soll, ist nicht nur völlig unrealistisch, sondern eine fatale Missachtung des
bürgerschaftlichen Engagements und der vielfältigen ehrenamtlichen Arbeit. Sie
kappt die Vielfältigkeit in der Auseinandersetzung mit uns selbst, die aber in
einer modernen, selbstbewussten Gesellschaft unerlässlich ist. Beim Sport ebenso
wie bei der Kultur, die doch zusammen viel zur friedlichen Gestaltung unseres
Gemeinwesens beitragen. Letztlich sind die Strukturen im Sport und im Theater
ziemlich ähnlich." Erst mal steht am 17. Mai die Premiere von Jelineks "Wut" auf
seinem Programm. Für das freie Bühnenprojekt "sechzig90" bleibt ihm aktuell
wenig Zeit. Sowieso steht es auf der Kippe, da ein neues Domizil gefunden werden
muss. Man ist aber zuversichtlich, dass dies gelingt. Außerdem muss der
bekennende Fußballfan Holger Kraft am 19. Mai nach Berlin ins Olympiastadion.
Seine Dauerkarte bei Eintracht Frankfurt teilt er sich mit seinen Geschwistern,
aber beim Pokalfinale will er selbst live dabei sein.
Aus "https://www.theater-bonn.de"
[Stand: 2018]
Holger Kraft, in
Rüsselsheim geboren und aufgewachsen, hat an der Hochschule für Musik und
Theater in Leipzig studiert. Nach Engagements in Jena, Stuttgart, Freiburg und
Wuppertal arbeitete er als freier Schauspieler für Theater, Film und Fernsehen
sowie als Dozent an der ADK, in Ludwigsburg. Er ist Mitbegründer des
Theaterhauses Sechzig90 Rüsselsheim, das sich überregional als Labor für
aktuelle und zeitgenössische Darstellende Kunst einen Namen gemacht hat.
Holger Kraft war
als Gast bereits in BILDER VON UNS von Thomas Melle (eingeladen zu den Mülheimer
Theatertagen und den Autorentagen Berlin) zu sehen und ist seit der Spielzeit
2016/17 festes Ensemblemitglied am Theater Bonn. Er spielte u. a. Hauptrollen in
Fritz Katers LOVE YOU, DRAGONFLY (Regie: Alice Buddeberg), Ibsens DIE FRAU VOM
MEER (Regie: Martin Nimz) und Jelineks ABRAUMHALDE (Regie: Simone Blattner).
Zuletzt stand er in BONNOPOLY (Regie: Volker Lösch), in Dürrenmatts DIE PHYSIKER
(Regie: Simon Solberg) und in WUT von Elfriede Jelinek (Regie: Sascha Hawemann)
auf der Bühne.