Von Björn Jensen
(aus "Hamburger Abendblatt" vom 11. Juni 2015)
Die SMS kommt auf
die Minute pünktlich zur verabredeten Treffenszeit, und sie sagt viel über
Britta Becker, ihre Kinderstube und ihre Einstellung zum Leben. "Gleich da, bin
auf dem Weg", ist zu lesen, dahinter das Emoticon mit den gefalteten Händen, in
Kurznachrichten das Zeichen für die Bitte um Vergebung. Drei Minuten später
betritt die langjährige Hockey-Nationalspielerin das Café Carlo am Mittelweg
schnellen Schritts. Drei Minuten Verspätung bedingen nicht zwingend eine
Entschuldigungs-SMS, man ist anderes gewohnt, auch von Hockeyspielern der
heutigen Generation. Aber für eine Frau wie Becker, die sich selbst einen Hang
zum Perfektionismus bescheinigt, sind drei Minuten Verspätung eben drei Minuten
zu viel.
Es hilft, solche
Dinge zu wissen, wenn man sich mit der 42-Jährigen über ihr Leben unterhält, und
das ist der Grund des Treffens. In der Serie "25 Jahre später" blickt das
Abendblatt auf die Erfahrungen zurück, die prominente Bürger dieser Stadt im
Vierteljahrhundert seit der Deutschen Einheit gesammelt haben. Für einige war
der 3. Oktober 1990 eine Zäsur, für andere nur eine Randnotiz. Britta Becker
liegt irgendwo dazwischen.
16 Jahre war sie
alt, Schülerin am Immanuel-Kant-Gymnasium in Rüsselsheim, als im November 1989
die Mauer fiel. "Ich war mit meinem Verein auf dem Weg zu einem Turnier in
Braunschweig, und ich erinnere noch genau, wie auf der Gegenfahrbahn ein Trabant
nach dem anderen Richtung Westen fuhr", sagt sie. Berührungspunkte mit der DDR
hatte sie nie gehabt, ihr Geburtsort Rüsselsheim lag fernab der innerdeutschen
Grenze, es gab keine Verwandten, keine Freunde im anderen Teil Deutschlands. Als
Sportlerin war sie mal in West-Berlin auf einem Turnier gewesen, Anreise mit der
PanAm, Rückreise mit dem Bus. "Die Stadt hat mich fasziniert, aber ich war
irritiert darüber, dass die Menschen im Osten nicht frei waren."
Ihr persönlicher
Mauerfall war der Ruf in die Nationalmannschaft
Seine Meinung nicht
sagen, nicht frei über die eigene Zukunft entscheiden zu dürfen – derlei
Einschränkungen hätte Britta Becker schon 1989 nur unter größtmöglicher
Selbstaufgabe verkraften können. Der persönliche Mauerfall in ihrem Leben war
die Berufung in die deutsche Nationalmannschaft gewesen, die im selben Jahr
erfolgt war, ein Einschnitt, der ihren gesamten Werdegang prägen sollte. "Als
16-Jährige mit durchweg älteren Spielerinnen, die in ihren Lebensphasen weiter
waren als ich, durch die Welt reisen zu dürfen, das hat mich schneller reifen
lassen und meine Persönlichkeitsentwicklung beschleunigt", sagt sie. Nach Reisen
mit der Auswahl zurück in die Schule zu müssen, empfand die Mittelfeldstrategin
bisweilen als harte Strafe, dennoch stand nie infrage, bis zum Abitur
durchzuziehen.
Woher diese
Disziplin kam, mit der sie all ihren Ehrgeiz in die sportliche Karriere
kanalisierte, kann Britta Becker nicht genau verorten. Sie wuchs in einer
Familiensiedlung auf, wo es normal war, dass die Kinder nach der Schule auf die
Straße gingen und erst wieder heimkamen, als die Mutter mit dem Abendbrot
lockte. Britta spielte Baseball und Fußball mit den Jungs, fuhr Rollschuh und
spielte Gummitwist mit den Mädchen, und sie nervte ihren dreieinhalb Jahre
älteren Bruder Ralf, weil sie immer gleichzeitig all das lernen wollte, was er
gerade konnte. "Er hat es nicht leicht mit mir gehabt", sagt sie und lacht.
Hockey spielte
niemand in der Familie, man ging allerdings gern zu den Bundesligaspielen des
Rüsselsheimer Ruder-Klubs (RRK), es war die Zeit, als zu Spitzenduellen gern mal
3.000 Besucher kamen. Der Bruder brachte es im American Football zum
Bundesligaspieler. Die Mutter war Hausfrau, der Vater arbeitete bei Opel, wie so
viele Väter in Rüsselsheim. Anfangs missfiel der Tochter des Hauses die
Brandmarkung ihrer Heimat als Opel-Standort, zum bestandenen Führerschein
wünschte sie sich einen gebrauchten Peugeot 305, bekam aber einen neuen Opel
Corsa. "Darüber war ich anfangs enttäuscht", sagt sie. Später kaufte sie als
Familienoberhaupt selbst einen Meriva und einen Zafira. Die Vernunft hatte sich
durchgesetzt.
"Beim Hockey habe ich immer Leichtigkeit und
niemals Druck empfunden." Britta Becker |
Britta begann mit
achteinhalb beim RRK mit dem Hockey, nachdem sie RRK-Jugendtrainer Berti Rauth,
der ihre Karriere prägen sollte wie kein anderer Coach, im Schulsport entdeckt
hatte. "Hockey – das war für mich wie Fliegen, ich habe dabei immer Leichtigkeit
und niemals Druck empfunden", sagt sie. Sie spürte schnell, dass sie am
Krummstock ein Talent hatte, das ihr Großes ermöglichen konnte – und dass sie
das nutzen musste. "Bis heute kann ich nicht verstehen, wenn Menschen ein
Talent, das ihnen geschenkt wurde, nicht ausbauen, sondern verschleudern. Seit
meiner Berufung als Zwölfjährige in die U16-Auswahl hatte ich deshalb den
Ehrgeiz, im Hockey die Beste zu werden", sagt sie.
Diesen Antrieb
haben viele Leistungssportler, sie würden im Ausleseverfahren sonst nicht
bestehen. Aber Britta Becker hatte mehr als Talent und Ehrgeiz. Sie hatte die
mentale Stärke, sich von Schulterklopfern nicht irritieren zu lassen. Das ist
nicht leicht, wenn man als Jugendliche in der örtlichen Presse in schöner
Regelmäßigkeit Schlagzeilen wie "Multitalent" oder "Wunderkind" lesen darf.
1994, da war sie 21, erschien im "Stern" eine Geschichte über Frauen im
Leistungssport, illustriert mit einem einseitigen Foto von Britta Becker.
121 Länderspiele
hatte sie damals schon bestritten, aber ihren Namen kannte bundesweit kaum
jemand. Dieses Foto im "Stern" war der Durchbruch. Norbert Pflippen, damals
Manager der größten Fußballstars des Landes, nahm sie unter Vertrag, besorgte
Sponsoring-Engagements. Es war, ohne dass sie es damals schon hätte ahnen
können, die beste Vorbereitung auf ein Leben mit Glamourfaktor, das nach der
Eheschließung mit Fernsehmoderator Johannes B. Kerner warten sollte.
1996 lernten sich
die beiden kennen, er moderierte eine Veranstaltung von Opel, der Firma, die sie
seit 1991 als persönlicher Sponsor unterstützte. Drei Monate später wurde
geheiratet, seitdem steht in Britta Beckers Pass der Nachnamenszusatz Kerner, am
Telefon meldet sie sich weiterhin nur mit Becker, auch auf ihren Trikots steht
nur Becker. Es ist kein bewusstes Statement, aber ein Sinnbild dafür, dass sie
sich trotz der größeren Bekanntheit ihres Mannes immer als eigenständige,
gleichberechtigte und selbstbewusste Frau behauptet hat.
Britta Beckers
herausragendste Eigenschaft, die sie von anderen, ebenso talentierten
Mitspielerinnen abhob, war ihr Verständnis für Räume. Wer im Mittelfeld das
Spiel gestalten will, braucht die Fähigkeit zum Antizipieren von Situationen, er
muss vorausahnen, wohin die Mitspielerin laufen wird, um den Ball in die
Schnittstelle zu spielen. Britta Becker konnte das, sie beschäftigte sich schon
in der Jugend mit Fotografie, hatte eine eigene Dunkelkammer. Es ist deshalb
auch keine Überraschung, dass ihr Blick für Räume den Weg in das Berufsleben
nach der aktiven Karriere ebnete.
Sie hatte nach dem
Abitur in Frankfurt am Main Sport studiert, "aber besser hätte das Designstudium
zu mir gepasst, das ich mir nicht zugetraut hatte, weil ich glaubte, dort nicht
die Beste sein zu können", sagt sie. Der Perfektionismus, er ist eben nicht
immer nur Antrieb, sondern bisweilen auch Hemmschuh. Den Weg zum Design, zur
Innenarchitektur, fand Britta Becker dann im Privatleben, als sie beim
Einrichten eigener Familiendomizile spürte, wie sehr ihr das Thema am Herzen lag
– und dass sie auch dafür ein Talent besaß. Seit zehn Jahren entwirft sie
freiberuflich (Internetpräsenz unter www.britta-becker.com) Räume für modernes
urbanes Leben. "Ich hatte immer gehofft, nach dem Sport etwas zu finden, das
mich genauso packt. Umso froher bin ich, dass ich es im Design gefunden habe",
sagt sie.
Der Sprung vom
Leistungssport in ein erfülltes Leben danach bereitet manch einem Profi
Schwierigkeiten; oft, weil der beste Zeitpunkt für den Abschied verpasst wird.
Britta Becker hat ihn gefunden. Nachdem sie 2003 aus freien Stücken ihren
Abschied bekannt gegeben hatte, kam sie ein Jahr später für ein Comeback zurück,
weil ihr Heimatverein sie bekniet hatte, um mit ihrer Hilfe den Einzug ins
Finale um die deutsche Meisterschaft zu schaffen. In Köln gewann der RRK den
Titel, es war, nach 231 Länderspielen mit drei Olympiateilnahmen (Silber 1992 in
Barcelona) und dem Gewinn der Hallen-WM 2003, fünf deutschen Meistertiteln im
Feld und sechs in der Halle, Britta Beckers letztes Spiel, zu dem sie mit ihrer
1999 geborenen Tochter Emily an der Hand einlief. "Da hat sich ein Kreis
geschlossen", sagt sie.
Heute ist Emily
diejenige, die den sportlichen Pfaden der Mutter folgt, sie ist
Jugendnationalspielerin im Club an der Alster und gilt als eines der größten
Hamburger Hockeytalente. Forciert hat die Mama das nie, auch wenn sie als
Co-Trainerin der Mannschaft die Karriere der Tochter eng begleitet. "Ich
versuche aber, so zurückhaltend wie möglich zu sein. Es wäre doch
kontraproduktiv, wenn ich ihr dauernd von meinen Erfahrungen erzählen würde. Sie
muss ihren eigenen Weg finden."
Seit Emilys Geburt
lebt Britta Becker in Hamburg, man brauchte damals eine Basis, damit angesichts
des reise- und stressintensiven Jobs des Ehemannes und des nicht weniger
fordernden Daseins als Hockey-Nationalspielerin ein Familienleben möglich wurde.
Es war die Zeit, in der die Hessin, der man die Herkunft noch bisweilen anhört,
wenn sie beispielsweise "trauf" sagt statt "drauf", die harte Lektion lernte,
dass Familie und Beruf schwer zu vereinbaren sein können. "Ich habe Emmy im Jahr
nach ihrer Geburt, als ich mich auf Olympia in Sydney vorbereitete, 180 Tage
nicht gesehen. Ohne meine Eltern hätte ich das nie geschafft. Ich kann erst
heute, da ich selbst vier Kinder habe, ermessen, was sie damals auf sich
genommen haben. Das hat mich geprägt."
Und sicherlich auch
dazu beigetragen, dass 2003, zwei Jahre nach der Geburt von Sohn Nik, die
Erkenntnis einsickerte, mehr Zeit für die Familie haben zu wollen und nicht für
den Sport durchs Land zu reisen. "Ich habe immer gesagt, dass ich aufhören
würde, wenn nicht mehr der Spaß überwiegt, sondern die Last. Und das habe ich
getan", sagt sie.
Es gebe nichts,
was sie noch unbedingt machen wolle – dabei ist sie erst 42
Ganz abgeschlossen
hat sie, die sich mit viel Jogging und ein wenig Golf und Tennis fit gehalten
hat, mit dem Hockey natürlich nie. Warum auch, es ist ja das, was sie liebt,
"und es wird im Leben nichts geben, das ich besser können werde". Die Kinder –
2007 wurde Polly geboren, 2009 Jilly – spielen alle bei Alster. Sie selbst, die
außer für Rüsselsheim nur kurzzeitig für Groß Flottbek in der Bundesliga antrat,
hat vor Kurzem Alsters Zweite Damen in der Regionalliga verstärkt.
Und seit zwei
Jahren arbeitet sie, möglich nur dank der Unterstützung eines fest engagierten
Kindermädchens, ehrenamtlich im Deutschen Hockey-Bund als Vizepräsidentin für
den Leistungssport. Dem Sport, der sie zu dem Menschen gemacht hat, der sie
heute ist, möchte sie "etwas zurückgeben", und sie hat gespürt, wie glücklich es
sie macht, weiterhin ein Teil der viel beschworenen Hockeyfamilie zu sein. "Das
ist einfach meins", sagt sie, und es klingt in seiner Einfachheit logisch.
Es scheint
unmöglich, alles in den vergangenen 25 Jahren Erlebte in einen einzigen Satz zu
gießen, aber Britta Becker versucht es trotzdem am Ende des Gesprächs, und es
ist ein bemerkenswerter Satz, der ihr dazu einfällt. "Wenn mein Leben heute
vorbei gehen müsste, dann wäre das sehr schade, aber es wäre ein sehr erfülltes
und glückliches Leben gewesen." Es gebe nichts, von dem sie das Gefühl habe, es
unbedingt noch machen zu müssen. Wer das mit gerade 42 Jahren behaupten kann,
der muss seine Zeit zu nutzen wissen. Und den Wert von drei Minuten kennen.