Lieber Herr Professor Klausen, Herr Oberbürgermeister,
verehrte Ehrengäste, meine Damen und Herren, liebe Freunde des Sports!
Menschen, die einen Festvortrag halten müssen, stoßen
nicht immer auf Wohlwollen. Sie stehen nämlich für gewöhnlich im
Verdacht, ihren wehrlos auf den Stühlen sitzenden Zuhörern eine
feierliche, staatstragende und jedenfalls langweilige Rede zu
präsentieren.
Zudem: Hundert Jahre RRK, das habe ich haarscharf
ausgerechnet, bestehen aus rund 53 Millionen Minuten.
Über diese hundert Jahre soll ich nun in 30 Minuten
sprechen.
Meine Damen und Herren, mir steht ein wenig Mitgefühl zu.
Und Verständnis dafür, dass ich hundert Jahre Geschichte in großen
Sprüngen durcheilen muss.
Was war los in Deutschland, als am 25. Juli 1908 21 junge
Rüsselsheimer den Ruderverein Rüsselsheim, also den RVR, gründeten und
den Monatsbeitrag auf eine Mark festlegten?
Es war der Schlusstag der Olympischen Spiele in London,
aber das war weit, weit weg. Radio und Fernsehen waren unbekannte
Begriffe, und ein Telefon-Netz gab es nicht.
In der späteren Autostadt Rüsselsheim bewältigten noch
Pferdedroschken die Hauptlast des Verkehrs. Im gesamten Deutschen Reich
gab es damals nur rund 14.000 Personenkraftwagen, wohl aber schon die
Auto-Kritiker.
So forderte der Abgeordnete zu Schönaich in strenger Form
"einen Schutz der zu Fuß gehenden Mitglieder der menschlichen
Gesellschaft vor den Ausschreitungen der Automobilisten".
Dabei begann doch erst in diesem Jahr 1908, ein Jahr vor
Anlauf der Opel-Doktorwagen-Produktion in Rüsselsheim, die
Massen-Motorisierung. Da lief in Detroit nämlich das erste Ford T-Modell
vom Band.
Im Sommer 1908 gründete sich neben dem RVR in Rüsselsheim
übrigens auch in den USA eine Institution, die später relativ bekannt
wurde. Sie nannte sich General Motors.
Der Arbeiter in einer deutschen Fabrik verdiente damals
etwa 25 Mark – pro Woche. Und die Deutschen waren mit einem Kaiser
bestraft, den der liebe Gott bei der Zuteilung von Verstand und
Herzensbildung schwer benachteiligt hatte.
So erklärte Wilhelm II fünf Tage vor der Gründung des RVR,
er wisse wohl, dass die anderen Nationen Deutschland einkreisen wollten,
aber der Germane habe nie besser gekämpft, als wenn er von allen Seiten
angegriffen würde. Die Gegner sollten nur kommen ...
Eine Ahnung von Krieg durchzog ein Europa, das weitgehend
eine Klassengesellschaft geblieben war. Im Kaiserreich schotteten sich
bürgerliche Verbände und Vereine gegen die Arbeiter ab. Und auch unsere
21 Vereinsgründer richteten sich nach den Statuten des Deutschen
Ruder-Verbandes, der seit 1883 dekretiert hatte, wer rudern durfte und
wer nicht. Die arbeitende Klasse durfte nicht. Denn es hieß:
"Ausgeschlossen ist der, welcher als Arbeiter durch
seiner Hände Arbeit seinen Lebensunterhalt verdient oder in irgendeiner
Weise beim Bootsbau beschäftigt ist."
Als Folge formierten Arbeiter und Handwerker in
Rüsselsheim mit der Rudergesellschaft Undine einen zweiten Ruderverein,
der sich nach wechselvoller Geschichte dann 1942 mit dem Ruderverein
Rüsselsheim vereinigte. Da erst entstand der heutige Name Rüsselsheimer
Ruder-Klub 08.
Aber zurück zu den Gründern, die wesentlich aus Schülern,
Lehrern und Studenten bestanden und den Pädagogen Georg Kirschenstein
zum 1. Vorsitzenden wählten.
Die kaufen sich einen gebrauchten Gig-Vierer für 170 Mark
– aus Eichenholz und vier Zentner schwer. Und sie entwerfen eine
Ruder-Ordnung, in der sich das Selbstverständnis der damaligen Ruderzeit
widerspiegelt.
Vorschriftsmäßige Uniformstücke sind: Weißes Trikot mit
rot gestreiftem Ärmelaufschlag und Brusteinsatz, blaue kurze Hose, die
bis an die Kniescheibe reicht, weißer Sweater, Rudermütze aus weißem
Tuch mit dem roten Stern, schwarze Strümpfe und Ruderschuhe.
Und: Bei Landungen und für Festlichkeiten auf dem Lande
wird vorgeschrieben: lange weiße Flanellhose, Sacco-Anzug aus
dunkelblauem Tuch und Galamütze.
Und dann ging es an den Bau einer Bootshalle, der
Geräte-Bestand erweiterte sich, ernsthaftes Training begann und Carl von
Opel, Mäzen der ersten Stunde, stiftete einen Renn-Vierer, mit dem der
erste Sieg des Vereins bei einer offenen Regatta in Mainz gelang.
Aber gerade, als es im RVR richtig losgehen sollte, da
stürmte Deutschland 1914 schon in den 1. Weltkrieg, verblendet,
frohgemut und siegessicher.
4.000 Opeler bauten für das Heer einen Lkw mit 30 PS. Und
wie gut gelaunt das Land war, zeigte sich an der Reklame der deutschen
Wirtschaft.
"Asbach Uralt", so suggerierte beispielsweise die
damalige Werbung, werde besonders gern auf deutschen Kriegsschiffen
getrunken. Und zwar vor allem, wenn die Schlacht in vollem Gange sei.
Doch es kamen furchtbare Jahre.
Allein in den verschlammten Gräben von Verdun starben 700
000 deutsche und französische Soldaten.
In Wien gibt es im letzten Kriegsjahr pro Einwohner noch
eine Zuteilung von 90 Gramm Brot pro Tag.
Als die Versorgung zusammenbrach, da liefen die
Kraftfahrzeuge des deutschen Heeres wegen des Kautschukmangels fast
durchweg auf Eisenreifen.
Und als der Hunger größer wurde, da streikten
Hunderttausende von Rüstungsarbeitern. Die Flotte meuterte. Das
Habsburger Reich brach zusammen. Wilhelm II dankte ab. Rüsselsheim stand
unter französischer Besatzung.
Und die Sieger diktierten den Deutschen
Waffenstillstands-Bedingungen von äußerster Härte und voller
Demütigungen.
Der deutsche Verhandlungsführer in Versailles, Erzberger,
kommentierte: "Das deutsche Volk wird ungeachtet jeder Gewalt seine
Freiheit und Einheit wahren. Ein Volk von 70 Millionen leidet, aber es
stirbt nicht."
Der Krieg hatte 10 Millionen Tote gekostet, darunter zwei
Millionen Deutsche. Aber der deutsche Nationalismus war lebendig
geblieben, und die Sieger hatten mit ihrem Friedens-Diktat alles getan,
diesen Nationalismus, ihren gefährlichsten Gegner, am Leben zu halten.
An Sport war in diesen Jahren nicht mehr zu denken. Die
Hälfte aller Mitglieder, so hieß es, sei "zu den Fahnen geeilt". Und
Georg Kirschenstein, der erste Präsident des Vereins, so die Chronik,
starb den "Heldentod auf Frankreichs Erde im Kampf für das geliebte
Vaterland".
Doch der übergroße Stolz auf die Heimat und auf
Deutschland lebte auch in den Sportvereinen fort.
Im RVR bauten die Mitglieder eine neue Bootshalle, und
dort mauerten sie 1922 eine Urkunde mit folgendem Wortlaut ein:
"Diese Urkunde soll daran erinnern, dass nach
Deutschlands Zusammenbruch im Kampf gegen eine Welt von Feinden deutsche
Tatkraft und deutscher Mut nicht verloren gegangen waren.
Wir, ein im Kampfe siegreich gewesenes, jetzt aber schwer
geschlagenes Volk, haben den Glauben an die Zukunft Deutschlands nicht
verloren. Möge es kommenden Geschlechtern vergönnt sein, im Rat der Welt
wieder denjenigen Platz zu erringen, auf den Deutschland durch seine
hohe Kultur Anspruch erheben kann."
Niemand ahnte, dass diese deutsche Kultur schon elf Jahre
später durch Adolf Hitler und die SS repräsentiert werden würde.
Springen wir wieder zehn Jahre voraus. Wie sah die Welt
des RVR im Jahre 1928 aus?
1925 hatten dort die Ruderer angefangen, im Winter als
Ausgleich Hockey zu spielen, ein Sport, dessen Vorzüge damals in
lyrischer Weise so beschrieben wurde:
"Zum Hockey eignen sich feinnervige, blitzschnell
handlungsbereite Menschen. Sie müssen voll gelöster und doch
spannungsfähiger Bewegtheit sein."
Im Verein ist auch sonst Leben. 1926 stellt eine Frau,
Irmgard von Opel, übrigens die erste deutsche Springreiterin von
Weltklasse, den Antrag auf Aufnahme in den Ruderverein.
Sie erwirkt eine Änderung der Satzung, die das
Damen-Rudern erlaubt. Jedoch wird dessen tägliches Ende auf 18 Uhr
festgesetzt, um das Programm der Herren nicht zu stören.
Im Jahre 1928 selbst ist Deutschland wieder in die
Völkergemeinschaft aufgenommen und darf an den Olympischen Spielen in
Amsterdam teilnehmen.
Rudolf Caracciola gewinnt den Großen Preis von
Deutschland auf dem neuerbauten Nürburgring, und Max Schmeling wird
deutscher Meister im Schwergewicht.
Die
Opel-Werke stehen vor dem
Verkauf an General Motors.
Fritz von Opel beschleunigt seinen Raketenwagen mit
Pulverraketen in 8 Sekunden auf hundert km/h, ein damals grandioser
Wert. Heute würde er schon von einem gut motorisierten Corsa erreicht.
Das Rheinland ist immer noch von Frankreich besetzt, aber
das deutsche Selbstbewusstsein wächst wieder, Deutschland baut den
Zeppelin und mit der "Bremen" und der "Europa" einige der größten und
schnellsten Passagier-Dampfer der Welt.
Aber die Demokratie der Weimarer Republik hat viele
Feinde.
Der Bund der Frontsoldaten, auch Stahlhelm genannt, will
zurück in die aggressive Vergangenheit des nationalistischen
Kaiserreichs. Die Tonart seiner Verlautbarungen dokumentiert Fanatismus:
"Wir hassen mit ganzer Seele den augenblicklichen
Staatsaufbau, weil er uns die Aussicht versperrt, unser geknechtetes
Vaterland zu befreien, das deutsche Volk von der erlogenen Kriegsschuld
zu reinigen, den notwendigen Lebensraum im Osten zu gewinnen, das
deutsche Volk wieder wehrhaft zu machen …"
Aber noch herrscht kein Krieg. Und im Sport taucht 1928
ein Name auf, der deutsche Sportgeschichte geschrieben hat. Georg von
Opel sitzt mit 16 Jahren für den Ruderverein Rüsselsheimer bei einer
Regatta in Frankfurt am Schlag eines siegreichen Jugendvierers.
Georg von Opel ist ein
Phänomen des Sports und des Lebens. Er ist Schütze, Radfahrer, Reiter,
Auto- und Motorradfahrer, Skiläufer, Boxer, Tennisspieler, Flieger,
Unterwasserfischer, insbesondere aber
Ruderer.
Er siegt in den Jahren
1928 bis 1953 für
Rüsselsheim
in 117 Ruderrennen, ist vielfacher deutscher und internationaler Meister
im Einer und Achter.
1951 fährt er 5
Automobilweltrekorde, wird später Vizepräsident des
Deutschen
Ruderverbandes,
Mitbegründer und Präsident der Deutschen Olympischen Gesellschaft,
Präsident des
Deutschen
Schützenbundes,
Initiator des "Goldenen Plans" für den Sportstättenbau, Mitbegründer der
Stiftung Deutsche
Sporthilfe
und von 1966 bis zu seinem Tod Mitglied des
Internationalen
Olympischen Komitees (IOC).
Vor wenigen Monaten hat
ihn die Stiftung Deutsche Sporthilfe in die "Hall of Fame" des deutschen
Sportes aufgenommen.
Springen Sie mit mir ins Jahr 1938:
Das preiswerteste deutsche Auto in diesem Jahr ist der
Opel P4: Er kostet 1.450 Reichsmark.
Jo Louis schlägt Max Schmeling ko, und auf der Autobahn
Darmstadt – Frankfurt stirbt Bernd Rosemeyer bei einem
Weltrekord-Versuch bei 430 km/h.
Heinrich Harrer bezwingt in dreieinhalb Tagen die
Eiger-Nordwand und braucht für die letzten 300 m neun Stunden. Zum
Vergleich: Der Schweizer Extrem-Bergsteiger Ueli Steck durchkletterte
die Wand im Februar 2008 in zwei Stunden, 47 Minuten und 33 Sekunden.
Aber das alles ist Nebensache. Seit 5 Jahren herrschen
die Nazis. Adolf Hitler praktiziert den Anschluss Österreichs an
Deutschland, lässt Truppen in die sudetendeutschen Gebiete der
Tschechoslowakei einmarschieren, blufft die Deutschen und fasziniert sie
auch, obwohl er längst dabei ist, seine Feinde zu vernichten, die Juden
zu verfolgen und die Europäer zu erpressen.
Am 9. November 1938 gehen seine Schlägertrupps in aller
Öffentlichkeit gegen deutsche jüdische Bürger vor, ermorden hunderte,
verbringen tausende in Konzentrationslager, stehlen ihr Eigentum und
zerstören ihre Synagogen – auch die in Rüsselsheim.
Reichskristallnacht. Es ist der Start zum Holocaust, zur
systematischen und später dann industriell geplanten Vernichtung der
Juden.
Im Sport übertragen die Nazis die gesamte Sportausbildung
der Hitler-Jugend. Nur noch HJ-Mitglieder dürfen Sport betreiben.
Und während Hitlers Schergen deutsche Bürger totschlagen
und alle Gesetze der Menschlichkeit ausschalten, bemühen sich Trainer
Fritz Brumme und Georg von Opel in einer Trainingsverpflichtung um
Gebote für Leistungssportler und Prinzipien des Fairplay.
"Der Besuch von rauchigen Räumen ist zu vermeiden;
Tanzlokale und Bars sind verboten.
Rauchen ist untersagt und in geschlechtlicher Beziehung
ist Enthaltsamkeit geboten.
Auf ein zurückhaltendes Verhalten ist zu achten, und
streng verboten ist es, sich mit fremden Mannschaften in
Auseinandersetzungen über den Verlauf eines Rennens einzulassen oder
abfällige Kritik an fremden Ruderern und Vereinen zu üben ..."
Das alles geschieht ein Jahr, bevor deutschen Truppen
nach Polen einmarschieren und den zweiten Weltkrieg beginnen. An dessen
Ende stehen sechs Millionen ermordete Juden und 60 Millionen Tote.
Schon 1941 müssen die Ruderer des RRK Siegestrophäen an
die Reichsverwaltung abliefern. Das Regime braucht nämlich Metalle für
den Krieg und hat ein Programm aufgelegt, das den schönen Namen trägt: Gold
gab ich für Eisen.
Im August 1944 bombardiert die britische Luftwaffe
Rüsselsheim. Rund 200 Bewohner der Stadt und in Lagern gehaltene
Zwangsarbeiter kommen ums Leben. Brandbomben treffen die Bootshalle: 24
Ruderboote verbrennen innerhalb weniger Minuten.
Wenig später lynchen Rüsselsheimer Bürger acht
amerikanische Piloten, die an dem Angriff nicht beteiligt waren und
zufällig als Gefangene durch die Stadt geführt wurden – eine Tragödie,
die nach dem Krieg mit Todesurteilen gegen fünf Einwohner der Stadt
endet und an die erst 60 Jahre später durch die Initiative von Dagmar
Eichhorn mit der Errichtung einer Gedenktafel an der Grabenstrasse
erinnert wird.
Dann kommt nach dem totalen Krieg die totale Niederlage.
Amerikanische Truppen besetzen am 25. März 1945 Rüsselsheim. Die
Militärregierung untersagt in ganz Hessen jeglichen Sport.
Aber als 1946 und 47 in Rüsselsheim Hunger herrscht,
finanzieren die Arbeiter von GM in den USA Care-Pakete für die Kinder
der Opel-Arbeiter.
Der RRK ist aufgelöst. 46 Vereins-Mitglieder sind im
Krieg umgekommen.
Aber im Sport steckt immer das Leben. Mit Schreiben vom
15. August 1946 teilt das Landratsamt Groß-Gerau nach vielen
demütigenden Petitionen schließlich mit, dass die Ausübung der
Sportarten Rudern,
Kanu und Hockey
innerhalb des RRK wieder erlaubt ist. Später gibt die Militär-Verwaltung
sogar den Straßenverkehr an Sonn- und Feiertagen für sportliche Zwecke
wieder frei.
Und schon 1947 gibt es wieder erste Deutsche
Meisterschaften im Rudern, bei denen Georg von Opel den Einer gewinnt.
Wir haben das Jahr 1948 erreicht.
Das Klubhaus ist immer noch von den Besatzungstruppen
beschlagnahmt, aber der Verein hat wieder 376 Mitglieder, und Georg von
Opel führt diesmal den Vierer ohne Steuermann zum Deutschen
Meistertitel.
Von den Olympischen Spielen in London bleiben Deutschland
und Japan ausgeschlossen.
Am 20. Juni beginnt mit der Währungsreform und der
Einführung der DM der wirtschaftliche Wiederaufstieg Deutschlands.
Der Parlamentarische Rat in Bonn arbeitet an einem
Grundgesetz für eine demokratische Bundesrepublik Deutschland.
Opel bietet den "Olympia" mit 37 PS und einer
Höchstgeschwindigkeit von 112 km/h an. In 43 Sekunden auf Hundert!
Außerdem hat Opel noch den luxuriös ausgestatteten "Kapitän" im Angebot:
Er ist damals mit 9.950 DM das teuerste deutsche Auto – Opel führt die
Luxusklasse an.
Das Bündnis der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges ist
inzwischen zerbrochen. Kalter Krieg zwischen den Atom-Mächten USA und
UdSSR.
Am 24. Juni 1948 blockieren die Sowjets alle Zufahrtswege
nach Berlin. Drei Jahre nach dem Krieg gegen die Deutschen, der rund 600.000 amerikanische und englische Soldaten in Europa das Leben kostete,
errichten die ehemaligen Feinde eine Luftbrücke nach Berlin, die die
zwei Millionen Einwohner der Westsektoren im Winter 1948/49 vor dem
Erfrieren und Verhungern bewahrt.
Als die Russen die Blockade nach einem Jahr aufgeben,
haben die Amis, unterstützt von Engländern, 278.000 Hilfsflüge
durchgeführt.
Bevor wir, meine Damen und Herren, ins Jahr 1958
springen, sei an einen denkwürdigen Kampf des Rüsselsheimer Achters
gegen die Universitäts-Mannschaft von Pennsylvania erinnert. 1951, bei
der weltberühmten Henley-Regatta auf der Themse. Der bekannte Reporter
Walter Umminger beschrieb unsere Niederlage im Finale so:
"Die Amerikaner entwickelten beinahe übermenschliche
Kräfte. Selten sah man selbst in Henley, dieser schweren 2.200 m-Strecke
gegen den Strom, eine Mannschaft im Ziel derart verausgabt.
Zwei Mann wurden besinnungslos aus dem Boot getragen.
Und die anderen Amerikaner fielen um, wo sie standen oder
sassen."
Wir sollten, meine Damen und Herren, dies in die
Chroniken eintragen als einen Sieg unseres Achters durch technischen ko.
Denn technisch, das weiß zumindest jeder Opeler, waren wir den Amis doch
schon immer überlegen.
Als das Jahr 1958 erreicht ist, existiert die
Bundesrepublik Deutschland schon neun Jahre.
Konrad Adenauer ist Kanzler, Theodor Heuss
Bundespräsident.
Elvis Presley kommt als Soldat nach Friedberg.
Armin Hary läuft als erster Mensch 10,0 Sek. über 100
Meter.
Zum Start ins Jahr des 50-jährigen Jubiläums feiert der
RRK. Erst eine große Sylvester-Feier im Bootshaus. Dann Fasching unter
dem Motto "Eine Nacht in Paris". Feiern hat im RRK lange Tradition.
Schon in den 20er Jahren gibt es einen Vergnügungsausschuss, der damals
u. a. Speis- und Trank-Feten mit der Begründung arrangierte, Essen sei
auch ein Sport.
Damals formulierte RRK-Präsident Dr. Renker bei der
"Akademischen Feier" laut Main-Spitze eine Botschaft, die an Aktualität
nichts verloren hat:
… der Sport stecke in einer Krise. Vielerorts sei er ein
Geschäft geworden. Das höchste Bestreben des Rüsselsheimer Ruder-Klubs
aber bleibe es, den alten Sportidealen weiterhin nachzueifern. Die
Jugend werde im Klub auch in der Zukunft angehalten, im Geiste des
Fairplay, der Ritterlichkeit und der Achtung vor der Leistung sich zu
üben und zu stählen.
Meine Damen und Herren, wir nähern uns Zeiten, an die wir
uns nun immer besser erinnern. Der RRK erreicht quicklebendig das Jahr
1968, in dem so viel passiert wie eh und je.
Eine Große Koalition unter Kiesinger und mit den
Ministern Strauß und Schiller regiert die Bundesrepublik.
Die Zahl der offenen Stellen in Deutschland ist größer
als die Zahl der Arbeitslosen.
Der 11-jährige Holländer Heintje wird Nr. 1 der deutschen
Schlagerparade.
Jim Clark verunglückt tödlich auf dem Hockenheim-Ring,
und der Boxer Jupp Elze stirbt im Ring unter der Einwirkung von
Dopingmitteln.
Ein Attentat auf Rudi Dutschke mobilisiert die
außerparlamentarische Opposition, Andreas Baader wird wegen
Brandstiftung auf der Zeil zu 3 Jahren Zuchthaus verurteilt, und die RAF
beginnt sich zu organisieren.
Sowjetische Truppen marschieren mit Unterstützung der DDR
in Prag ein.
Das Raumschiff Apollo umfliegt den Mond.
Und beim RRK beginnt eine neue sportliche Ära, denn der
Klub gewinnt zum Start einer schier endlosen Erfolgskette die erste
Deutsche Meisterschaft im Feldhockey, über die das Rüsselsheimer Echo u.
a. schrieb:
"Als die Spieler gestern durch die Straßen Rüsselsheims
fuhren, blieben die Menschen am Straßenrand stehen und spendeten spontan
Beifall. Es war nur ein Hauch von dem, was Fußballmeister etwa erwartet.
Aber Hockey ist kein Sport professioneller Lautmalerei. Hier stehen
Amateure reinsten Wassers. Es gibt keine Prämien und keine Treuegelder.
Es gibt nur die Liebe zum Sport und die eigene Begeisterung."
Als das Jahr 1978 gekommen ist, wird ein gewisser
Gerhard Schröder, später ein Feindbild der Linken, in Hofheim zum Chef
der Jung-Sozialisten gewählt.
Die Bundesrepublik führt auf den Autobahnen 130 km/h
Richtgeschwindigkeit ein.
Reinhold Messner und Peter Hagerer klettern ohne
Sauerstoff auf den Mount Everest, und Deutschland wird
Handball-Weltmeister mit Heiner Brand.
Auf dem Friedhof aber ruht Georg von Opel, gestorben
schon 1971 an einem Herzinfarkt, in dessen Folge sein Auto von der
Fahrbahn abkam.
Der RRK selbst expandiert, baut zwei neue Tennisplätze,
erreicht das Finale um den Hockey-Europapokal und gewinnt den fünften
Deutschen Meistertitel auf dem Feld.
1988. Bei den Olympischen
Spielen in Seoul wird Ben Johnson wegen Dopings disqualifiziert.
Die deutsche Tennis-Mannschaft mit Opel als Sponsor
gewinnt den Daviscup. Und Steffi Graf, damals auch ein "Opel-Mädchen",
holt sich den Sieg in allen vier Grandslam-Turnieren der Saison und
zudem Olympisches Gold.
RRK-Torwart Tobias Frank wird mit
der deutschen Hockey-Mannschaft Europameister und holt Silber bei
Olympia. Und die A-Mädchen-Mannschaft des Klubs gewinnt zum dritten Male
hintereinander die Deutsche Meisterschaft im Hallenhockey. Mit dabei ein
Rüsselsheimer Urgewächs, Britta Becker, die später für Deutschland 231
Länderspiele bestreitet.
Aber 1988 gibt es nicht nur Sport.
Über dem schottischen Lockerbie sprengt der lybische
Geheimdienst eine PanAm-Maschine mit 300 Passagieren.
Die Russen begnadigen den deutschen Sportflieger Mathias
Rust, der 1987 mit einer Cessna nach Moskau flog und unweit des Roten
Platzes landete.
In Ramstein sterben 70 Zuschauer bei einer Flugschau
italienischer Jet-Piloten.
Doch im wesentlichen ist 1988 das Jahr revolutionärer
politischer Entwicklungen.
Gorbatschow, Generalsekretär der KPdSU, sorgt für eine
politische Sensation und erklärt, jedes sozialistische Land solle sich
sein politisches System selbst wählen.
Aber die DDR, obwohl
wirtschaftlich dem Zusammenbruch nahe, lehnt Glasnost und Perestroika ab
und geht auf Distanz.
In Ostberlin beginnen
erste Demonstrationen für Presse-Freiheit, bevor dann im Herbst 1989
immer mehr Ostdeutsche auf die Straße gehen, die Mauer sich öffnet und
die Wege zur Wiedervereinigung frei werden, gegen die es – heute längst
vergessen – auch im Westen heftigen Widerstand gibt.
Oskar Lafontaine
nennt sie "historischen Schwachsinn",
Joschka Fischer
schreibt, mit der Wiedervereinigung müsse man noch mindestens weitere 45
Jahre warten, Günter Grass spricht sich gar für eine ewige Teilung
Deutschlands aus, und Gerhard Schröder hält eine auf die
Wiedervereinigung gerichtete Politik für "reaktionär und hochgradig
gefährlich".
Nun, Helmut Kohl und
Willy Brandt sehen das ganze anders.
Und nichts mag die Vergänglichkeit politischer
Erkenntnisse besser illustrieren, als dass knapp zehn Jahre später, wir
sind nun im Jahr 1998, Gerhard
Schröder als Nachfolger Kohls zum Bundeskanzler der
wiedervereinigten Bundesrepublik gewählt wird.
Was sonst passierte vor zehn Jahren?
Die Washington Post berichtet über eine hocherotische
Affäre im Weißen Haus und läutet das Ende der Ära Clinton ein.
Schlagersänger Guildo Horn befruchtet mit seiner Band
"Die orthopädischen Strümpfe" und dem Lied "Guildo hat Euch lieb" das
deutsche Kulturleben.
Die NATO beginnt zum Schutz der Bosnier und
Kosovo-Bewohner mit der Bombardierung strategischer Ziele in
Jugoslawien.
101 Bahn-Passagiere sterben, als der
ICE "Wilhelm
Conrad Röntgen" bei
Eschede entgleist.
Die
Grünen plädieren in ihrem
Wahlprogramm 1998 für eine Anhebung des Benzinpreises auf fünf D-Mark
pro Liter. Der Jubel darüber, dass sie derzeit ihrem Ziel näher kommen,
klingt heute allerdings merkwürdig gedämpft.
Die Daimler-Benz AG und Chrysler feiern jene "Hochzeit im
Himmel", die – wie wir wissen – später, wie so manche Ehe, in völliger
Zerrüttung endet.
Der Euro steht vor der Tür, der
1. FC Kaiserslautern wird
als Aufsteiger Deutscher Fußballmeister der Herren, und die Lerche wird
von den Naturschützern zum
Vogel des Jahres gekürt.
Die Ruderer
des RRK können im abgelaufenen Jahr auf 40 Regatta-Siege und deutsche
Meistertitel verweisen. Die Hockey-Abteilung freut sich über zwei
Deutsche Meisterschaften und den siebten Sieg der Damen im Europacup.
Und bei der Hallen-Europameisterschaft in Spanien wird das deutsche Team
mit Britta Becker und Denise Klecker, ebenfalls zum 7. Mal,
Europameister.
Meine Damen und Herren, nun wir sind dabei, das Jahr
2008 zu erleben. Der Rüsselsheimer Ruder-Klub, mit seinen jetzt 630
Mitgliedern, ist 100 Jahre alt. Er hat ein Jahrhundert einzigartiger
Sensationen und schlimmster menschlicher Verirrungen erlebt:
Bahnbrechende technische Erfindungen wie Radio,
Fernsehen, Flugzeug, Computer, Atombombe und Atom-Energie.
Die Entwicklung von Waffen-Technologien, mit denen man
auf einen Schlag mehr Menschen umbringen kann als in Jahrtausenden
zuvor.
Zwei Weltkriege mit den furchtbarsten Schlachten in der
Geschichte der Menschheit.
Mit Kommunismus, National-Sozialismus und Islamismus die
mörderischsten Ideologien der Weltgeschichte.
Während des Ost-West-Konflikts 40 Jahre lang die tägliche
Bedrohung durch einen Atomkrieg.
Dann Globalisierung, der Aufstieg Chinas zur Großmacht,
der weltweite Terrorismus und gleichzeitig doch auch die Entwicklung
einer deutschen Demokratie mit einem neuen Nationalbewusstsein - ohne
Großmannssucht und ohne Überheblichkeit gegenüber den Nachbar-Völkern.
Und in dieser Demokratie schließlich hat sich der Sport
zur größten Bürgerbewegung unseres Landes entwickelt.
Wir mögen klagen über eine Welt der Machtkämpfe, der
Seelenlosigkeit, der Technokratie, der Gewinn-Gier, des Egoismus, der
Rücksichtslosigkeit, des banalen Entertainments und der
Oberflächlichkeit.
Aber in mehr als 90.000 deutschen Sportvereinen mit fast
30 Millionen Mitgliedern, darunter zehn Millionen Jugendliche, da werden
täglich hunderttausendfach Miteinander und Solidarität praktiziert.
Wer dort Sport betreibt, muss nach Regeln kämpfen, lernt,
dass Leistung zählt, dass Sieg und Niederlage zum Leben gehören, dass
man ohne seinen Nächsten verloren ist, dass Teamarbeit entscheidet, dass
sich der Wert eines Menschen nicht nach Einkommen, sozialer Herkunft,
Religion oder Hautfarbe bemisst, sondern nach seinem Können und nach
seiner anständigen Haltung als Mitstreiter oder Gegner.
In deutschen Sportvereinen wird Demokratie gelernt und
Integration praktiziert.
Profitorientierte und vom Fernsehen privilegierte
Profi-Sportarten, in denen es unvermeidlich eben auch Betrug und
Manipulation gibt, prägen in einer Mediengesellschaft schnell
verallgemeinernd das öffentliche Bild vom Sport. Ein paar hundert
hochbezahlte Profis, ihre Doping- und Moral-Probleme scheinen für das
Ganze zu stehen.
Aber das ist ein Zerrbild, und wer wegen dieser
Außenseiter und Minoritäten den Sport und die Sportler pauschal
diskreditieren will, der müsste beispielsweise die deutsche Bevölkerung
in ihrer Gesamtheit für kriminell erklären – weil es nämlich in der
Bundesrepublik unter 80 Millionen Einwohnern sechzigtausend
Gefängnisinsassen gibt.
Meine Damen und Herren, lassen wir den Sport und seine
Ideen verteidigen.
Und finden wir Zuversicht im Blick auf den Rüsselsheimer
Ruder-Klub von 1908, der ein Jahrhundert voller Dramen und Wunder
überdauert hat und der als einer der erfolgreichsten deutschen
Sportvereine bis heute für Anstand und Menschlichkeit steht, für
Kameradschaft und für die Freude am Leben.
Ich danke Ihnen.
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