Rüsselsheimer Ruder-Klub 08 "Archiv und Chronik"

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100 Jahre Rüsselsheimer Ruder-Klub 08

"Der RRK im Wirbel der Zeiten" von Hans Wilhelm Gäb

Festrede am 26.07.2008

 

Lieber Herr Professor Klausen, Herr Oberbürgermeister, verehrte Ehrengäste, meine Damen und Herren, liebe Freunde des Sports!

 

Menschen, die einen Festvortrag halten müssen, stoßen nicht immer auf Wohlwollen. Sie stehen nämlich für gewöhnlich im Verdacht, ihren wehrlos auf den Stühlen sitzenden Zuhörern eine feierliche, staatstragende und jedenfalls langweilige Rede zu präsentieren.

Zudem: Hundert Jahre RRK, das habe ich haarscharf ausgerechnet, bestehen aus rund 53 Millionen Minuten.

Über diese hundert Jahre soll ich nun in 30 Minuten sprechen.

Meine Damen und Herren, mir steht ein wenig Mitgefühl zu. Und Verständnis dafür, dass ich hundert Jahre Geschichte in großen Sprüngen durcheilen muss.

 

Was war los in Deutschland, als am 25. Juli 1908 21 junge Rüsselsheimer den Ruderverein Rüsselsheim, also den RVR, gründeten und den Monatsbeitrag auf eine Mark festlegten?

Es war der Schlusstag der Olympischen Spiele in London, aber das war weit, weit weg. Radio und Fernsehen waren unbekannte Begriffe, und ein Telefon-Netz gab es nicht.

In der späteren Autostadt Rüsselsheim bewältigten noch Pferdedroschken die Hauptlast des Verkehrs. Im gesamten Deutschen Reich gab es damals nur rund 14.000 Personenkraftwagen, wohl aber schon die Auto-Kritiker.

So forderte der Abgeordnete zu Schönaich in strenger Form "einen Schutz der zu Fuß gehenden Mitglieder der menschlichen Gesellschaft vor den Ausschreitungen der Automobilisten".

Dabei begann doch erst in diesem Jahr 1908, ein Jahr vor Anlauf der Opel-Doktorwagen-Produktion in Rüsselsheim, die Massen-Motorisierung. Da lief in Detroit nämlich das erste Ford T-Modell vom Band.

Im Sommer 1908 gründete sich neben dem RVR in Rüsselsheim übrigens auch in den USA eine Institution, die später relativ bekannt wurde. Sie nannte sich General Motors.

Der Arbeiter in einer deutschen Fabrik verdiente damals etwa 25 Mark – pro Woche. Und die Deutschen waren mit einem Kaiser bestraft, den der liebe Gott bei der Zuteilung von Verstand und Herzensbildung schwer benachteiligt hatte.

So erklärte Wilhelm II fünf Tage vor der Gründung des RVR, er wisse wohl, dass die anderen Nationen Deutschland einkreisen wollten, aber der Germane habe nie besser gekämpft, als wenn er von allen Seiten angegriffen würde. Die Gegner sollten nur kommen ...

Eine Ahnung von Krieg durchzog ein Europa, das weitgehend eine Klassengesellschaft geblieben war. Im Kaiserreich schotteten sich bürgerliche Verbände und Vereine gegen die Arbeiter ab. Und auch unsere 21 Vereinsgründer richteten sich nach den Statuten des Deutschen Ruder-Verbandes, der seit 1883 dekretiert hatte, wer rudern durfte und wer nicht. Die arbeitende Klasse durfte nicht. Denn es hieß:

"Ausgeschlossen ist der, welcher als Arbeiter durch seiner Hände Arbeit seinen Lebensunterhalt verdient oder in irgendeiner Weise beim Bootsbau beschäftigt ist."

 Als Folge formierten Arbeiter und Handwerker in Rüsselsheim mit der Rudergesellschaft Undine einen zweiten Ruderverein, der sich nach wechselvoller Geschichte dann 1942 mit dem Ruderverein Rüsselsheim vereinigte. Da erst entstand der heutige Name Rüsselsheimer Ruder-Klub 08.

Aber zurück zu den Gründern, die wesentlich aus Schülern, Lehrern und Studenten bestanden und den Pädagogen Georg Kirschenstein zum 1. Vorsitzenden wählten.

Die kaufen sich einen gebrauchten Gig-Vierer für 170 Mark – aus Eichenholz und vier Zentner schwer. Und sie entwerfen eine Ruder-Ordnung, in der sich das Selbstverständnis der damaligen Ruderzeit widerspiegelt.

Vorschriftsmäßige Uniformstücke sind: Weißes Trikot mit rot gestreiftem Ärmelaufschlag und Brusteinsatz, blaue kurze Hose, die bis an die Kniescheibe reicht, weißer Sweater, Rudermütze aus weißem Tuch mit dem roten Stern, schwarze Strümpfe und Ruderschuhe.

Und: Bei Landungen und für Festlichkeiten auf dem Lande wird vorgeschrieben: lange weiße Flanellhose, Sacco-Anzug aus dunkelblauem Tuch und Galamütze.

Und dann ging es an den Bau einer Bootshalle, der Geräte-Bestand erweiterte sich, ernsthaftes Training begann und Carl von Opel, Mäzen der ersten Stunde, stiftete einen Renn-Vierer, mit dem der erste Sieg des Vereins bei einer offenen Regatta in Mainz gelang.

Aber gerade, als es im RVR richtig losgehen sollte, da stürmte Deutschland 1914 schon in den 1. Weltkrieg, verblendet, frohgemut und siegessicher.

4.000 Opeler bauten für das Heer einen Lkw mit 30 PS. Und wie gut gelaunt das Land war, zeigte sich an der Reklame der deutschen Wirtschaft.

"Asbach Uralt", so suggerierte beispielsweise die damalige Werbung, werde besonders gern auf deutschen Kriegsschiffen getrunken. Und zwar vor allem, wenn die Schlacht in vollem Gange sei.

Doch es kamen furchtbare Jahre.

Allein in den verschlammten Gräben von Verdun starben 700 000 deutsche und französische Soldaten.

In Wien gibt es im letzten Kriegsjahr pro Einwohner noch eine Zuteilung von 90 Gramm Brot pro Tag.

Als die Versorgung zusammenbrach, da liefen die Kraftfahrzeuge des deutschen Heeres wegen des Kautschukmangels fast durchweg auf Eisenreifen. 

Und als der Hunger größer wurde, da streikten Hunderttausende von Rüstungsarbeitern. Die Flotte meuterte. Das Habsburger Reich brach zusammen. Wilhelm II dankte ab. Rüsselsheim stand unter französischer Besatzung.

Und die Sieger diktierten den Deutschen Waffenstillstands-Bedingungen von äußerster Härte und voller Demütigungen.

Der deutsche Verhandlungsführer in Versailles, Erzberger, kommentierte: "Das deutsche Volk wird ungeachtet jeder Gewalt seine Freiheit und Einheit wahren. Ein Volk von 70 Millionen leidet, aber es stirbt nicht."

Der Krieg hatte 10 Millionen Tote gekostet, darunter zwei Millionen Deutsche. Aber der deutsche Nationalismus war lebendig geblieben, und die Sieger hatten mit ihrem Friedens-Diktat alles getan, diesen Nationalismus, ihren gefährlichsten Gegner, am Leben zu halten.

An Sport war in diesen Jahren nicht mehr zu denken. Die Hälfte aller Mitglieder, so hieß es, sei "zu den Fahnen geeilt". Und Georg Kirschenstein, der erste Präsident des Vereins, so die Chronik, starb den "Heldentod auf Frankreichs Erde im Kampf für das geliebte Vaterland".

Doch der übergroße Stolz auf die Heimat und auf Deutschland lebte auch in den Sportvereinen fort.

Im RVR bauten die Mitglieder eine neue Bootshalle, und dort mauerten sie 1922 eine Urkunde mit folgendem Wortlaut ein:

"Diese Urkunde soll daran erinnern, dass nach Deutschlands Zusammenbruch im Kampf gegen eine Welt von Feinden deutsche Tatkraft und deutscher Mut nicht verloren gegangen waren.

Wir, ein im Kampfe siegreich gewesenes, jetzt aber schwer geschlagenes Volk, haben den Glauben an die Zukunft Deutschlands nicht verloren. Möge es kommenden Geschlechtern vergönnt sein, im Rat der Welt wieder denjenigen Platz zu erringen, auf den Deutschland durch seine hohe Kultur Anspruch erheben kann."

Niemand ahnte, dass diese deutsche Kultur schon elf Jahre später durch Adolf Hitler und die SS repräsentiert werden würde.

 

Springen wir wieder zehn Jahre voraus. Wie sah die Welt des RVR im Jahre 1928 aus?

1925 hatten dort die Ruderer angefangen, im Winter als Ausgleich Hockey zu spielen, ein Sport, dessen Vorzüge damals in lyrischer Weise so beschrieben wurde:

"Zum Hockey eignen sich feinnervige, blitzschnell handlungsbereite Menschen. Sie müssen voll gelöster und doch spannungsfähiger Bewegtheit sein."

Im Verein ist auch sonst Leben. 1926 stellt eine Frau, Irmgard von Opel, übrigens die erste deutsche Springreiterin von Weltklasse, den Antrag auf Aufnahme in den Ruderverein.

Sie erwirkt eine Änderung der Satzung, die das Damen-Rudern erlaubt. Jedoch wird dessen tägliches Ende auf 18 Uhr festgesetzt, um das Programm der Herren nicht zu stören.

Im Jahre 1928 selbst ist Deutschland wieder in die Völkergemeinschaft aufgenommen und darf an den Olympischen Spielen in Amsterdam teilnehmen.

Rudolf Caracciola gewinnt den Großen Preis von Deutschland auf dem neuerbauten Nürburgring, und Max Schmeling wird deutscher Meister im Schwergewicht.

Die Opel-Werke stehen vor dem Verkauf an General Motors.

Fritz von Opel beschleunigt seinen Raketenwagen mit Pulverraketen in 8 Sekunden auf hundert km/h, ein damals grandioser Wert. Heute würde er schon von einem gut motorisierten Corsa erreicht.

Das Rheinland ist immer noch von Frankreich besetzt, aber das deutsche Selbstbewusstsein wächst wieder, Deutschland baut den Zeppelin und mit der "Bremen" und der "Europa" einige der größten und schnellsten Passagier-Dampfer der Welt.

Aber die Demokratie der Weimarer Republik hat viele Feinde.

Der Bund der Frontsoldaten, auch Stahlhelm genannt, will zurück in die aggressive Vergangenheit des nationalistischen Kaiserreichs. Die Tonart seiner Verlautbarungen dokumentiert Fanatismus:

"Wir hassen mit ganzer Seele den augenblicklichen Staatsaufbau, weil er uns die Aussicht versperrt, unser geknechtetes Vaterland zu befreien, das deutsche Volk von der erlogenen Kriegsschuld zu reinigen, den notwendigen Lebensraum im Osten zu gewinnen, das deutsche Volk wieder wehrhaft zu machen …"

Aber noch herrscht kein Krieg. Und im Sport taucht 1928 ein Name auf, der deutsche Sportgeschichte geschrieben hat. Georg von Opel sitzt mit 16 Jahren für den Ruderverein Rüsselsheimer bei einer Regatta in Frankfurt am Schlag eines siegreichen Jugendvierers.

Georg von Opel ist ein Phänomen des Sports und des Lebens. Er ist Schütze, Radfahrer, Reiter, Auto- und Motorradfahrer, Skiläufer, Boxer, Tennisspieler, Flieger, Unterwasserfischer, insbesondere aber Ruderer.

Er siegt in den Jahren 1928 bis 1953 für Rüsselsheim in 117 Ruderrennen, ist vielfacher deutscher und internationaler Meister im Einer und Achter.

1951 fährt er 5 Automobilweltrekorde, wird später Vizepräsident des Deutschen Ruderverbandes, Mitbegründer und Präsident der Deutschen Olympischen Gesellschaft, Präsident des Deutschen Schützenbundes, Initiator des "Goldenen Plans" für den Sportstättenbau, Mitbegründer der Stiftung Deutsche Sporthilfe und von 1966 bis zu seinem Tod Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees (IOC).

Vor wenigen Monaten hat ihn die Stiftung Deutsche Sporthilfe in die "Hall of Fame" des deutschen Sportes aufgenommen.

 

Springen Sie mit mir ins Jahr 1938:

Das preiswerteste deutsche Auto in diesem Jahr ist der Opel P4: Er kostet 1.450 Reichsmark.

Jo Louis schlägt Max Schmeling ko, und auf der Autobahn Darmstadt – Frankfurt stirbt Bernd Rosemeyer bei einem Weltrekord-Versuch bei 430 km/h.

Heinrich Harrer bezwingt in dreieinhalb Tagen die Eiger-Nordwand und braucht für die letzten 300 m neun Stunden. Zum Vergleich: Der Schweizer Extrem-Bergsteiger Ueli Steck durchkletterte die Wand im Februar 2008 in zwei Stunden, 47 Minuten und 33 Sekunden.

Aber das alles ist Nebensache. Seit 5 Jahren herrschen die Nazis. Adolf Hitler praktiziert den Anschluss Österreichs an Deutschland, lässt Truppen in die sudetendeutschen Gebiete der Tschechoslowakei einmarschieren, blufft die Deutschen und fasziniert sie auch, obwohl er längst dabei ist, seine Feinde zu vernichten, die Juden zu verfolgen und die Europäer zu erpressen.  

Am 9. November 1938 gehen seine Schlägertrupps in aller Öffentlichkeit gegen deutsche jüdische Bürger vor, ermorden hunderte, verbringen tausende in Konzentrationslager, stehlen ihr Eigentum und zerstören ihre Synagogen – auch die in Rüsselsheim.

Reichskristallnacht. Es ist der Start zum Holocaust, zur systematischen und später dann industriell geplanten Vernichtung der Juden.

Im Sport übertragen die Nazis die gesamte Sportausbildung der Hitler-Jugend. Nur noch HJ-Mitglieder dürfen Sport betreiben.

Und während Hitlers Schergen deutsche Bürger totschlagen und alle Gesetze der Menschlichkeit ausschalten, bemühen sich Trainer Fritz Brumme und Georg von Opel in einer Trainingsverpflichtung um Gebote für Leistungssportler und Prinzipien des Fairplay.

"Der Besuch von rauchigen Räumen ist zu vermeiden; Tanzlokale und Bars sind verboten.

Rauchen ist untersagt und in geschlechtlicher Beziehung ist Enthaltsamkeit geboten.

Auf ein zurückhaltendes Verhalten ist zu achten, und streng verboten ist es, sich mit fremden Mannschaften in Auseinandersetzungen über den Verlauf eines Rennens einzulassen oder abfällige Kritik an fremden Ruderern und Vereinen zu üben ..."

Das alles geschieht ein Jahr, bevor deutschen Truppen nach Polen einmarschieren und den zweiten Weltkrieg beginnen. An dessen Ende stehen sechs Millionen ermordete Juden und 60 Millionen Tote.

Schon 1941 müssen die Ruderer des RRK Siegestrophäen an die Reichsverwaltung abliefern. Das Regime braucht nämlich Metalle für den Krieg und hat ein Programm aufgelegt, das den schönen Namen trägt: Gold gab ich für Eisen.

Im August 1944 bombardiert die britische Luftwaffe Rüsselsheim. Rund 200 Bewohner der Stadt und in Lagern gehaltene Zwangsarbeiter kommen ums Leben. Brandbomben treffen die Bootshalle:  24 Ruderboote verbrennen innerhalb weniger Minuten.

Wenig später lynchen Rüsselsheimer Bürger acht amerikanische Piloten, die an dem Angriff nicht beteiligt waren und zufällig als Gefangene durch die Stadt geführt wurden – eine Tragödie, die nach dem Krieg mit Todesurteilen gegen fünf Einwohner der Stadt endet und an die erst 60 Jahre später durch die Initiative von Dagmar Eichhorn mit der Errichtung einer Gedenktafel an der Grabenstrasse erinnert wird.

Dann kommt nach dem totalen Krieg die totale Niederlage. Amerikanische Truppen besetzen am 25. März 1945 Rüsselsheim. Die Militärregierung untersagt in ganz Hessen jeglichen Sport.

Aber als 1946 und 47 in Rüsselsheim Hunger herrscht, finanzieren die Arbeiter von GM in den USA Care-Pakete für die Kinder der Opel-Arbeiter.

Der RRK ist aufgelöst. 46 Vereins-Mitglieder sind im Krieg umgekommen.

Aber im Sport steckt immer das Leben. Mit Schreiben vom 15. August 1946 teilt das Landratsamt Groß-Gerau nach vielen demütigenden Petitionen schließlich mit, dass die Ausübung der Sportarten Rudern, Kanu und Hockey innerhalb des RRK wieder erlaubt ist. Später gibt die Militär-Verwaltung sogar den Straßenverkehr an Sonn- und Feiertagen für sportliche Zwecke wieder frei.

Und schon 1947 gibt es wieder erste Deutsche Meisterschaften im Rudern, bei denen Georg von Opel den Einer gewinnt.

 

Wir haben das Jahr 1948 erreicht.

Das Klubhaus ist immer noch von den Besatzungstruppen beschlagnahmt, aber der Verein hat wieder 376 Mitglieder, und Georg von Opel führt diesmal den Vierer ohne Steuermann zum Deutschen Meistertitel.

Von den Olympischen Spielen in London bleiben Deutschland und Japan ausgeschlossen.

Am 20. Juni beginnt mit der Währungsreform und der Einführung der DM der wirtschaftliche Wiederaufstieg Deutschlands.

Der Parlamentarische Rat in Bonn arbeitet an einem Grundgesetz für eine demokratische Bundesrepublik Deutschland.

Opel bietet den "Olympia" mit 37 PS und einer Höchstgeschwindigkeit von 112 km/h an. In 43 Sekunden auf Hundert! Außerdem hat Opel noch den luxuriös ausgestatteten "Kapitän" im Angebot: Er ist damals mit 9.950 DM das teuerste deutsche Auto – Opel führt die Luxusklasse an.

Das Bündnis der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges ist inzwischen zerbrochen. Kalter Krieg zwischen den Atom-Mächten USA und UdSSR.

Am 24. Juni 1948 blockieren die Sowjets alle Zufahrtswege nach Berlin. Drei Jahre nach dem Krieg gegen die Deutschen, der rund 600.000 amerikanische und englische Soldaten in Europa das Leben kostete, errichten die ehemaligen Feinde eine Luftbrücke nach Berlin, die die zwei Millionen Einwohner der Westsektoren im Winter 1948/49 vor dem Erfrieren und Verhungern bewahrt.

Als die Russen die Blockade nach einem Jahr aufgeben, haben die Amis, unterstützt von Engländern, 278.000 Hilfsflüge durchgeführt.

Bevor wir, meine Damen und Herren, ins Jahr 1958 springen, sei an einen denkwürdigen Kampf des Rüsselsheimer Achters gegen die Universitäts-Mannschaft von Pennsylvania erinnert. 1951, bei der weltberühmten Henley-Regatta auf der Themse. Der bekannte Reporter Walter Umminger beschrieb unsere Niederlage im Finale so:

"Die Amerikaner entwickelten beinahe übermenschliche Kräfte. Selten sah man selbst in Henley, dieser schweren 2.200 m-Strecke gegen den Strom, eine Mannschaft im Ziel derart verausgabt.

Zwei Mann wurden besinnungslos aus dem Boot getragen.

Und die anderen Amerikaner fielen um, wo sie standen oder sassen."

Wir sollten, meine Damen und Herren, dies in die Chroniken eintragen als einen Sieg unseres Achters durch technischen ko. Denn technisch, das weiß zumindest jeder Opeler, waren wir den Amis doch schon immer überlegen.

 

Als das Jahr 1958 erreicht ist, existiert die Bundesrepublik Deutschland schon neun Jahre.

Konrad Adenauer ist Kanzler, Theodor Heuss Bundespräsident.

Elvis Presley kommt als Soldat nach Friedberg.

Armin Hary läuft als erster Mensch 10,0 Sek. über 100 Meter.

Zum Start ins Jahr des 50-jährigen Jubiläums feiert der RRK. Erst eine große Sylvester-Feier im Bootshaus. Dann Fasching unter dem Motto "Eine Nacht in Paris". Feiern hat im RRK lange Tradition. Schon in den 20er Jahren gibt es einen Vergnügungsausschuss, der damals u. a. Speis- und Trank-Feten mit der Begründung arrangierte, Essen sei auch ein Sport.

Damals formulierte RRK-Präsident Dr. Renker bei der "Akademischen Feier" laut Main-Spitze eine Botschaft, die an Aktualität nichts verloren hat:

… der Sport stecke in einer Krise. Vielerorts sei er ein Geschäft geworden.  Das höchste Bestreben des Rüsselsheimer Ruder-Klubs aber bleibe es, den alten Sportidealen weiterhin nachzueifern. Die Jugend werde im Klub auch in der Zukunft angehalten, im Geiste des Fairplay, der Ritterlichkeit und der Achtung vor der Leistung sich zu üben und zu stählen.

 

Meine Damen und Herren, wir nähern uns Zeiten, an die wir uns nun immer besser erinnern. Der RRK erreicht quicklebendig das Jahr 1968, in dem so viel passiert wie eh und je.

Eine Große Koalition unter Kiesinger und mit den Ministern Strauß und Schiller regiert die Bundesrepublik.

Die Zahl der offenen Stellen in Deutschland ist größer als die Zahl der Arbeitslosen.

Der 11-jährige Holländer Heintje wird Nr. 1 der deutschen Schlagerparade.

Jim Clark verunglückt tödlich auf dem Hockenheim-Ring, und der Boxer Jupp Elze stirbt im Ring unter der Einwirkung von Dopingmitteln.

Ein Attentat auf Rudi Dutschke mobilisiert die außerparlamentarische Opposition, Andreas Baader wird wegen Brandstiftung auf der Zeil zu 3 Jahren Zuchthaus verurteilt, und die RAF beginnt sich zu organisieren.

Sowjetische Truppen marschieren mit Unterstützung der DDR in Prag ein.

Das Raumschiff Apollo umfliegt den Mond.

Und beim RRK beginnt eine neue sportliche Ära, denn der Klub gewinnt zum Start einer schier endlosen Erfolgskette die erste Deutsche Meisterschaft im Feldhockey, über die das Rüsselsheimer Echo u. a. schrieb:

"Als die Spieler gestern durch die Straßen Rüsselsheims fuhren, blieben die Menschen am Straßenrand stehen und spendeten spontan Beifall. Es war nur ein Hauch von dem, was Fußballmeister etwa erwartet. Aber Hockey ist kein Sport professioneller Lautmalerei. Hier stehen Amateure reinsten Wassers. Es gibt keine Prämien und keine Treuegelder. Es gibt nur die Liebe zum Sport und die eigene Begeisterung."

 

Als das Jahr 1978 gekommen ist, wird ein gewisser Gerhard Schröder, später ein Feindbild der Linken, in Hofheim zum Chef der Jung-Sozialisten gewählt.

Die Bundesrepublik führt auf den Autobahnen 130 km/h Richtgeschwindigkeit ein.

Reinhold Messner und Peter Hagerer klettern ohne Sauerstoff auf den Mount Everest, und Deutschland wird Handball-Weltmeister mit Heiner Brand.

Auf dem Friedhof aber ruht Georg von Opel, gestorben schon 1971 an einem Herzinfarkt, in dessen Folge sein Auto von der Fahrbahn abkam.

Der RRK selbst expandiert, baut zwei neue Tennisplätze, erreicht das Finale um den Hockey-Europapokal und gewinnt den fünften Deutschen Meistertitel auf dem Feld.

 

1988.  Bei den Olympischen Spielen in Seoul wird Ben Johnson wegen Dopings disqualifiziert.

Die deutsche Tennis-Mannschaft mit Opel als Sponsor gewinnt den Daviscup. Und Steffi Graf, damals auch ein "Opel-Mädchen", holt sich den Sieg in allen vier Grandslam-Turnieren der Saison und zudem Olympisches Gold.

RRK-Torwart Tobias Frank wird mit der deutschen Hockey-Mannschaft Europameister und holt Silber bei Olympia. Und die A-Mädchen-Mannschaft des Klubs gewinnt zum dritten Male hintereinander die Deutsche Meisterschaft im Hallenhockey. Mit dabei ein Rüsselsheimer Urgewächs, Britta Becker, die später für Deutschland 231 Länderspiele bestreitet.

Aber 1988 gibt es nicht nur Sport.

Über dem schottischen Lockerbie sprengt der lybische Geheimdienst eine PanAm-Maschine mit 300 Passagieren.

Die Russen begnadigen den deutschen Sportflieger Mathias Rust, der 1987 mit einer Cessna nach Moskau flog und unweit des Roten Platzes landete.

In Ramstein sterben 70 Zuschauer bei einer Flugschau italienischer Jet-Piloten.

Doch im wesentlichen ist 1988 das Jahr revolutionärer politischer Entwicklungen.

Gorbatschow, Generalsekretär der KPdSU, sorgt für eine politische Sensation und erklärt, jedes sozialistische Land solle sich sein politisches System selbst wählen.

Aber die DDR, obwohl wirtschaftlich dem Zusammenbruch nahe, lehnt Glasnost und Perestroika ab und geht auf Distanz.

In Ostberlin beginnen erste Demonstrationen für Presse-Freiheit, bevor dann im Herbst 1989 immer mehr Ostdeutsche auf die Straße gehen, die Mauer sich öffnet und die Wege zur Wiedervereinigung frei werden, gegen die es – heute längst vergessen – auch im Westen heftigen Widerstand gibt.

Oskar Lafontaine nennt sie "historischen Schwachsinn", Joschka Fischer schreibt, mit der Wiedervereinigung müsse man noch mindestens weitere 45 Jahre warten, Günter Grass spricht sich gar für eine ewige Teilung Deutschlands aus, und Gerhard Schröder hält eine auf die Wiedervereinigung gerichtete Politik für "reaktionär und hochgradig gefährlich".

Nun, Helmut Kohl und Willy Brandt sehen das ganze anders.

 

Und nichts mag die Vergänglichkeit politischer Erkenntnisse besser illustrieren, als dass knapp zehn Jahre später, wir sind nun im Jahr 1998,  Gerhard Schröder als Nachfolger Kohls zum Bundeskanzler der wiedervereinigten Bundesrepublik gewählt wird.

Was sonst passierte vor zehn Jahren?

Die Washington Post berichtet über eine hocherotische Affäre im Weißen Haus und läutet das Ende der Ära Clinton ein.

Schlagersänger Guildo Horn befruchtet mit seiner Band "Die orthopädischen Strümpfe" und dem Lied "Guildo hat Euch lieb" das deutsche Kulturleben.

Die NATO beginnt zum Schutz der Bosnier und Kosovo-Bewohner mit der Bombardierung strategischer Ziele in Jugoslawien.

101 Bahn-Passagiere sterben, als der ICE "Wilhelm Conrad Röntgen" bei Eschede entgleist.

Die Grünen plädieren in ihrem Wahlprogramm 1998 für eine Anhebung des Benzinpreises auf fünf D-Mark pro Liter. Der Jubel darüber, dass sie derzeit ihrem Ziel näher kommen, klingt heute allerdings merkwürdig gedämpft.

Die Daimler-Benz AG und Chrysler feiern jene "Hochzeit im Himmel", die – wie wir wissen – später, wie so manche Ehe, in völliger Zerrüttung endet.

Der Euro steht vor der Tür, der 1. FC Kaiserslautern wird als Aufsteiger Deutscher Fußballmeister der Herren, und die Lerche wird von den Naturschützern zum Vogel des Jahres gekürt.

Die Ruderer des RRK können im abgelaufenen Jahr auf 40 Regatta-Siege und deutsche Meistertitel verweisen. Die Hockey-Abteilung freut sich über zwei Deutsche Meisterschaften und den siebten Sieg der Damen im Europacup. Und bei der Hallen-Europameisterschaft in Spanien wird das deutsche Team mit Britta Becker und Denise Klecker, ebenfalls zum 7. Mal, Europameister.

 

Meine Damen und Herren, nun wir sind dabei, das Jahr 2008 zu erleben. Der Rüsselsheimer Ruder-Klub, mit seinen jetzt 630 Mitgliedern, ist 100 Jahre alt. Er hat ein Jahrhundert einzigartiger Sensationen und schlimmster menschlicher Verirrungen erlebt:

Bahnbrechende technische Erfindungen wie Radio, Fernsehen, Flugzeug, Computer, Atombombe und Atom-Energie.

Die Entwicklung von Waffen-Technologien, mit denen man auf einen Schlag mehr Menschen umbringen kann als in Jahrtausenden zuvor.

Zwei Weltkriege mit den furchtbarsten Schlachten in der Geschichte der Menschheit.

Mit Kommunismus, National-Sozialismus und Islamismus die mörderischsten Ideologien der Weltgeschichte.

Während des Ost-West-Konflikts 40 Jahre lang die tägliche Bedrohung durch einen Atomkrieg.

Dann Globalisierung, der Aufstieg Chinas zur Großmacht, der weltweite Terrorismus und gleichzeitig doch auch die Entwicklung einer deutschen Demokratie mit einem neuen Nationalbewusstsein - ohne Großmannssucht und ohne Überheblichkeit gegenüber den Nachbar-Völkern.

Und in dieser Demokratie schließlich hat sich der Sport zur größten Bürgerbewegung unseres Landes entwickelt.

Wir mögen klagen über eine Welt der Machtkämpfe, der Seelenlosigkeit, der Technokratie, der Gewinn-Gier, des Egoismus, der Rücksichtslosigkeit, des banalen Entertainments und der Oberflächlichkeit.

Aber in mehr als 90.000 deutschen Sportvereinen mit fast 30 Millionen Mitgliedern, darunter zehn Millionen Jugendliche, da werden täglich hunderttausendfach Miteinander und Solidarität praktiziert.

Wer dort Sport betreibt, muss nach Regeln kämpfen, lernt, dass Leistung zählt, dass Sieg und Niederlage zum Leben gehören, dass man ohne seinen Nächsten verloren ist, dass Teamarbeit entscheidet, dass sich der Wert eines Menschen nicht nach Einkommen, sozialer Herkunft, Religion oder Hautfarbe bemisst, sondern nach seinem Können und nach seiner anständigen Haltung als Mitstreiter oder Gegner.

In deutschen Sportvereinen wird Demokratie gelernt und Integration praktiziert.

Profitorientierte und vom Fernsehen privilegierte Profi-Sportarten, in denen es unvermeidlich eben auch Betrug und Manipulation gibt, prägen in einer Mediengesellschaft schnell verallgemeinernd das öffentliche Bild vom Sport. Ein paar hundert hochbezahlte Profis, ihre Doping- und Moral-Probleme scheinen für das Ganze zu stehen.

Aber das ist ein Zerrbild, und wer wegen dieser Außenseiter und Minoritäten den Sport und die Sportler pauschal diskreditieren will, der müsste beispielsweise die deutsche Bevölkerung in ihrer Gesamtheit für kriminell erklären – weil es nämlich in der Bundesrepublik unter 80 Millionen Einwohnern sechzigtausend Gefängnisinsassen gibt.

Meine Damen und Herren, lassen wir den Sport und seine Ideen verteidigen.

Und finden wir Zuversicht im Blick auf den Rüsselsheimer Ruder-Klub von 1908, der ein Jahrhundert voller Dramen und Wunder überdauert hat und der als einer der erfolgreichsten deutschen Sportvereine bis heute für Anstand und Menschlichkeit steht, für Kameradschaft und für die Freude am Leben.

 

Ich danke Ihnen.