"Encore quatre minutes!" Das Megaphon schallt über den
See. Von den Kraterwänden hallt es dumpf zurück. Der olympische Endlauf
steht bevor. Die Achter formieren sich an den Nachen. Flaues Gefühl im
Magen: Zusammenreißen, jetzt oder nie. "Panez!" Der Startruf
durchschneidet die Stille, entfesselt ein hohes Getöse schriller
Steuermannschreie, Knallen der Rollsitze, Klatschen der Startspritzer.
Das große, das letzte Rennen ist unterwegs.
Die
Erinnerung greift zurück: Vier Jahre hatte man sich diesem Ziel
verschrieben - kaum Zeit für etwas anderes außer täglichem Training.
Regattareisen, Rennzeiten, Trainingspensum. Bootstrimming,
Formschwankungen, Ernährung, Taktik, Strategie. Vier Jahre lang war das
Rudern fast die wichtigste Sache der Welt. Der sportliche Mythos
faszinierte die Motivation. Mitmachen, Dabei sein, Handeln - dies schien
das Abenteuer des aktiven Lebens. Ein Gemeinschaftswerk von Mannschaft
und Trainer entstand; Höhepunkt und Erfüllung eines "mythischen" Traums.
Tausend
Meter. Hart bleiben. Zehn scharfe Schläge erwidern den Zwischenspurt.
Dreiviertel Länge. Und noch 500 Meter, die letzten des letzten Rennens.
Muskeln und Sehnen schmerzen im Zug, treten gegen wachsenden Widerstand.
Luft, Keuchen, Arme, Beine, klobige Hindernisse. Blick aus dem Boot.
Vancouver, der Gegner, bleibt zurück. Eine Länge. Endspurt. "Noch 15!"
Der Bootskörper springt noch einmal an. Alles in diesen Schlag und
wieder in diesen. Schwärze, Brausen, rauchige Kehle. Die Schwere scheint
schier unerträglich. 14, 15 - durch. Fallen, Sinken, Luft, Dunkel,
Lichtpunkte - Erschlaffen. "In Bewegung bleiben", allmähliches
Weiterpaddeln, Schnappen, Keuchen. Dann taucht die Umwelt auf, die
braunen Boote, die bunten Trikots, die brausende Tribüne.
Das letzte, das größte
Rennen. Soweit die Erinnerung an den olympischen Achterendlauf des
Jahres 1960, an eine persönliche Erfahrung. Ist das Leben ein Rennen,
ein Leistungsspiel? Nicht ein Traum wie im Theater Calderóns? Ein Traum
war erfüllt. War ein Mythos Wirklichkeit geworden? "Die Struktur der
Leistung ist auf allen Gebieten gleich"; so unser Trainer, der berühmte
Ratzeburger "Ruderprofessor" Karl Adam. Eine Leistung, die lange Zeit
vorher schon das praktische Leben beherrschte, die lange nachher das
persönliche Leben prägte – auch dann, wenn sie nicht wie bei mir zu
beruflichen Verbindungen mit dem Sport führte.
Warum faszinierte sie uns und
andere so - vorher wie nachher? Was ist der Wert, der Sinn solcher
vordergründig doch "sinnloser" Leistungen, wenn sie weder Brot noch
Rente bringen? Welches sind die gesellschaftlichen Werte, die der Sport
verwirklicht oder vermittelt? Heute freilich gibt es den zum Teil
einträglichen Sportberuf der Stars, der den Bewertungen des Showbusineß
unterliegt. Dem einen "die hohe Göttin, dem anderen die Magd, die ihn
mit Butter versorgt" – wie bei Schiller die Wissenschaft. Der Mensch
lebt nicht vom Brot allein – könnte man antworten.
Das ist vielleicht schon eine
Teilantwort. Der Mensch ist das Wesen, dem das anscheinend Überflüssige
zu einer Art Notwendigkeit wird, zur Kultur - wie der spanische
Lebensphilosoph Ortega y Gasset meinte, der übrigens auch eine
provokative, aber nach wie vor bedenkenswerte, wenn auch etwas
überpointierte Philosophie des Sports entwickelt hat. Die Kultur sei die
"Tochter des Sports" und des freien überquellenden Spiels, glaubte er,
nicht die Arbeit, wie man es sonst immer deutete. Alles für die Kultur
Wertvolle sei aus dem Überfluß der Lebensfreude, dem Kraftüberschuß, der
Verschwendung gleichsam sonst nicht notwendiger Energie entstanden.
Wir sind heute weit von solch
einer Lebensphilosophie entfernt. Man kann wohl nicht alles Dürre,
Zweckhafte, Mechanische pauschal mit der Arbeit gleichsetzen und im
Kontrast dazu alles Lebendige, Interessante, Wertvolle, Kulturelle mit
Sport und Spiel assoziieren. War es nicht Beethoven, der im
Kunstschaffen fünf Prozent Inspiration und 95 Prozent Transpiration sah?
Ortega jedenfalls spricht geradezu vom sportlich-festlichen Sinn des
Lebens.
Nun, wenn das Leben schon
nicht Sport ist, so ist doch Sport vitales Leben. Er besteht aus
Handlungen, Leistungen, die ein Mensch selbst zu vollbringen hat, die
nicht erschlichen, vorgetäuscht und letztlich nicht delegiert oder bloß
organisiert und gänzlich manipuliert werden können. Es geht also um
selbstmotivierte Eigenhandlungen und Eigenleistungen, die im übrigen
auch nicht zu kommandieren sind: Zum Marschieren kann man jemanden
zwingen, nicht aber zum Rekord im Marathonlauf oder gar zur Besteigung
des Everest. Sport ist ein exemplarischer Bereich für freiwillig
erbrachte Eigenleistung, für persönliche, selbstmotivierte eigene
Handlung, die unter Beurteilungsmaßstäben steht: als besser oder
schlechter; als hervorragend; als mehr oder weniger gelungen oder als
mißlungen gewertet wird - vom Handelnden selbst wie von anderen.
Der
Renngemeinschaftsachter Ruderverein Rüsselsheim (RVR)/Rudergesellschaft
"Undine" Rüsselsheim (RGUR) beim Deutschen Meisterschaftsrudern
1939 in Hannover: Hans Mietzschke (RVR), Georg von Opel (RVR), Oskar
Fischer (RVR), Adam Breidert (RGUR), Georg Boller (RVR), Karl Schömbs
(RVR), Ernst
Müller (RGUR), Heinz Hummel (RVR) |
Die sportliche Leistung kann
im Idealfall als Prototyp, als Vorbild der Eigenleistung gelten, die
einzeln oder in Gruppen vollbracht oder versucht werden kann, wie das
Eingangsbeispiel des olympischen Achtelfinales zeigt.
Wie ich in meinem Buch
"Eigenleistung" 1983 beschrieben habe, gibt es also ein Prinzip der
Eigenleistung, der Eigenaktivität und des positiv bewerteten eigenen
Engagements. Die eigenmotiviert erbrachte und selbst die fremdbestimmte
eigene Handlung, zumal die besondere oder gar ausgezeichnete Leistung,
ist ein Prinzip des Schöpferischen, das in einer aktiven und dynamischen
Gesellschaft im Vordergrund steht: ein Vehikel persönlicher Auszeichnung
und auch der Anerkennung oder gar Bewunderung durch andere.
Eigenleistung muß nicht
Höchstleistung sein: Jedes an Gütestandards gemessene persönliche
Handeln – verglichen mit der gleichartigen Aktivität anderer oder
eigenen früheren Ergebnissen – ist ein solches Eigenleisten im weiteren
Sinne. Dies muß nicht notwendig wie im modernen Sport
institutionalisiert - im hochorganisierten Wettkampf verwirklicht
werden. Es gibt ja auch besondere künstlerische, wissenschaftliche
Leistungen, zum Teil ohne unmittelbare Konkurrenz oder Wettkampf. Sogar
im Natursport findet sich dieses Prinzip der nicht direkt
konkurrenzorientierten Hochleistung. Daneben gibt es dort freilich auch
scharf ausgeprägte Partnerkonkurrenzen um Erstbesteigungen,
Erstüberquerungen und so weiter.
Die sportliche Eigenleistung
ist durch einen physischen und psychischen Gesamteinsatz der Person
gekennzeichnet, die oft mißverständlich als "bloß körperlich"
abgestempelt wird. Freiwilligkeit und Eigenmotivierung sind notwendige
Bedingungen dieser eigenen, besonders auch der schöpferischen Leistung.
Leistung kann so zu einem Ausdruck persönlicher Willenshandlung, der
Handlungsfreiheit und Auszeichnung beziehungsweise Selbstbestätigung
werden. Die eigenmotivierte Leistung ist somit ein Ausdruck der aktiven
und kreativen Persönlichkeit und dementsprechend kein reines Produkt von
Anlage und bloß natürlichem Trieb, sondern weit mehr auch seelische,
gesellschaftliche und kulturelle, ja, geistige Errungenschaft, wenn
auch, jedenfalls im Sport immer auf biologischer Grundlage. Sie besitzt
eine besondere erzieherische Bedeutung - gerade auch dann, wenn es sich
um eine symbolische Leistung handelt, die ein biologisch und ökonomisch
"überflüssiges" Ergebnis erzeugt. Das anscheinend Überflüssige ist in
mancher Hinsicht besonders nötig – für die kulturelle Entwicklung und
zumal für die Erziehung.
Die individuelle "Leistung"
als produktive oder rekreative, persönlich erbrachte, als nützlich oder
beachtlich bewertete Handlung ist wie jede Leistung abhängig von
Bewertung und Deutung, setzt Tüchtigkeits-, Güte- und
Schwierigkeitsmaßstäbe voraus sowie bestimmte förderliche individuelle
und soziale Bedingungen – zum Beispiel ein individualistisches,
Selbstverantwortlichkeit betonendes aktivistisches Lebensgrundgefühl und
etwa liberale Gesellschaftsstrukturen.
Es hat sich in der Debatte um
die Gesellschaftskritik am Leistungsprinzip und an der
Leistungsgesellschaft in den 60er und 70er Jahren gezeigt, daß auf
Leistungsorientierung und -förderung generell nicht verzichtet werden
kann und daß das Leistungsprinzip auch keineswegs einer humanen
Gesellschaft entgegenstehen muß. Wichtig ist aber – zumal im Sport –,
zwischen eigenmotivierter und fremdverordneter Leistung zu
unterscheiden. Mit Eigenleistung meine ich in erster Linie die erstere,
die eigenmotivierte, freiwillig erbrachte persönliche Leistung. Etwas
selbst zu leisten, bringt auch Lust, Bestätigung des Selbst und hängt
natürlich ebenso von der Anerkennung durch andere ab.
Sport ist die leicht
dynamisch verständliche, sinnlich eingängige, erlebbare und motivierende
Version und mitreißende, faszinierende Darstellung der Eigenleistung.
Sich physisch und psychisch anzustrengen, ist ein wichtiges
Erziehungsfeld für Eigenhandeln zumal in einer sitzenden, fernsehenden,
auto- und schreibtischfixierten passiven Gesellschaft, welche die
körperlichen und auch die eigenen kreativen Handlungen allzuoft in
Restreservate abdrängt.
Im
Finale des "Thames Challenge Cup" in Henley 1951
muß sich der Achter der Rudergemeinschaft
Flörsheim-Rüsselsheim
gegen den Achter der University of Pennsylvania geschlagen
geben |
Wir haben damit einige für
die gegenwärtige hochzivilisierte Gesellschaft wichtige Möglichkeiten
der Wertverwirklichung am Sport festgestellt, die ich im folgenden in 15
Punkten thesenhaft präsentieren will:
1. In einer sitzengebliebenen
Gesellschaft psychophysisch weitgehend immobilisierter Menschen ist die
leib-seelische Beanspruchung, sind sportliche Bewegung,
Gesundheitssport, Natursport nicht nur eine wichtige Basis zur
Entwicklung und Erhaltung der vitalen Kapazitäten und der Gesundheit,
sondern auch der psychophysischen Aktivierung generell. Das gilt auch
für die Älteren: Maßvoll betriebener Sport ist geradezu eine Schule des
aktiven Älterwerdens. Wie sagte ein französischer Olympiaruderer? "Die
Wichtigkeit des Sports beginnt – nach dem Sport."
2. Wie jede kreative und
rekreative, positiv bewertete und eigenmotiviert erbrachte
Eigenaktivität vermittelt auch die sportliche Tätigkeit wichtige
Erlebnisse und Könnenserfahrungen (einschließlich der Erkenntnis eigener
Begrenztheit), die zur persönlichen Selbstentfaltung gerade auch
Jugendlicher beitragen können - im Sinne eines aktiven Gestaltens:
Eigenaktivität, Sport statt Drogen. Wie jede andere rekreative und
kreative - künstlerisch-schöpferische - Tätigkeit kann auch Sport
wesentliche Aktiverlebnisse garantieren, die dem Passivismus des heute
manchmal sogenannten "neuen Hedonismus" entgegenwirken. Auch in Hinsicht
auf eigene Entscheidungsfähigkeit und Entscheidungsbereitschaft ist
Sport als Schule der Handlungsfreiheit und Willensstärkung anzusehen:
Ich habe in diesem Zusammenhang vom zugegebenerweise idealen Modell des
"mündigen Athleten" gesprochen.
3. Sport ist, wie wir sahen,
eine besonders eingängige, leicht verständliche, auch Jugendlichen
zugängliche und faszinierende Schule der individuellen Eigenleistung –
im weiteren wie im engeren Sinne. Eine besondere Faszination – sowohl
als Vorbild, Anregung und spannungsgeladenes Nacherleben – geht gerade
von der sportlichen Hochleistung aus. Dieser Anregungs- beziehungsweise
Ansteckungseffekt ist vorhanden, selbst wenn man über sein Ausmaß im
heutigen Höchstleistungs- und Showsport geteilter Meinung sein kann.
4. Sportliches Eigenhandeln
und Eigenleisten sind fast stets an soziale Situationen gebunden – etwa
den Vergleich im Wettkampf. Insofern ergibt sich auch eine direkte
Schulung der sozialen Umgangsweisen in standardisierten Situationen,
zumal im Wettkampf, in der Leistungssteigerung im Training, in der
Trainingsgruppe, bei Erfahrungen des Vergleichs unter relativ gleichen
Bedingungen und auch die praktische Einübung von Fairneß, auf die ich
noch zurückkomme. Dies alles ist ersichtlich von hoher erzieherischer
Relevanz in einer Einzelkind-Gesellschaft.
5. Handeln und Eigenleisten
kann man gerade auch in Gruppen: Die Sportgruppe, die Mannschaft und die
damit verbundenen Erfahrungs- und Übungsmöglichkeiten sind – wie das
Jugendorchester – hervorragende Schulungsbereiche für Teamwork, das man
am besten in eigenen Erfahrungen des Sports, der Musik- oder Tanzgruppe,
der kleinen "Forscher"-Gruppe lernt und einübt - am einfachsten und
jugendgemäßesten wiederum im Mannschaftserlebnis. Teamgeist, Einordnung,
Zusammenarbeit, Ausrichtung auf ein gemeinsames Ziel,
Mannschaftstraining – dies wird am besten in Mannschaften und Orchestern
gelernt. Rudolf Hagelstange hat diese Einsicht anläßlich des eingangs
geschilderten olympischen Endlaufes in die Worte gefaßt: "Der Achter
–
das ist die Mannschaft an sich."
6. Sportgruppen, Mannschaften
wie auch Gesangvereine oder Jugendorchester benötigen eine Aufteilung
von Rollen, Aufgaben, Führungspositionen und Verantwortung: Junge
Menschen können hier praxisnah aktive Verantwortungsübernahme üben. Man
hat den Sport geradezu "eine Schule der Demokratie" genannt. Dasselbe
gilt natürlich für Jugendhilfegruppen, Pfadfindergruppen, eigenaktive
Vereine aller Arten. Der gesellschaftliche Wert dieser jugendgemäßen und
zur Eigenaktivität und Eigenverantwortung hinleitenden Übungsfelder ist
unmittelbar einsichtig.
7. Im Umgang mit dem
Wettkampfpartner und den Mannschaftskameraden wird unter mehr oder
weniger standardisierten Bedingungen auch der Hauptwert eingeübt, den
der Sport der moralischen Kultur in einer von institutionellen
Auseinandersetzungen geprägten Gesellschaft geschenkt hat: nämlich das
Fairneß-Verhalten. Fairneß ist die eigentliche Tochter des Sports, die
dieser allen Bereichen der Konkurrenz, des Wetteiferns, des
gesellschaftlichen Vergleichs und der Verteilung von Vor- und
Nachteilen, Nutzen und Kosten und so weiter gegeben hat.
Obwohl Fairneß-Regeln und
-Gebote wie etwa auch das sechste oder siebente christliche Gebot häufig
verletzt werden, haben sie doch eine außerordentlich wichtige
gesellschaftliche Orientierungsfunktion in allen gesellschaftlichen
Bereichen der geregelten Auseinandersetzung oder Vorteilsnahme
beziehungsweise der Nachteile oder Kostenzumutung erlangt. Das gilt
nicht nur für die formelle Fairneß, das möglichst buchstabengetreue
Einhalten der Wettkampf- oder Spielregeln, sondern gerade auch für die
von mir 1964 so genannte "informelle Fairneß", den Geist des fairen
Achtens und Beachtens des Gegners oder Vergleichspartners.
Der Zweier mit Stm.
der Renngemeinschaft Berliner Ruder-Club/Rüsselsheimer Ruder-Klub
im Jahr 2005 bei den Deutschen U23-Meisterschaften auf der Wedau mit Stm.
Martin Sauer (BRC), Sven Hartenbach (RRK) und Peter Nedwig (BRC)
auf der 2.000-m-Strecke ihres Meisterschaftsrennen, wo sie die
"Goldmedaille" holen |
Je mehr "auf dem Spiele
steht", im sogenannten Lebensernst und im vielfach für Athleten
existentiell ernst gewordenen Hochleistungssport, wo es ja verstärkt um
Lebens und Aufstiegschancen oder gar um größere Geldsummen geht, desto
stärker ist Fairneß gefährdet. Gilt Sieg als ein und alles, so reüssiert
das sogenannte "elfte Gebot": "Du sollst Dich nicht erwischen lassen"
(wie es treuherzig kürzlich ein österreichischer, als Dopingsünder
erwischter Bobfahrer geradezu in klassischer Reinheit kommentierte: "Man
denkt halt, daß man selber nicht erwischt wird."). Wie sagen die
US-Amerikaner?: "Fair/nice guys finish last."
Je unerläßlicher oder
wichtiger der Sieg oder Erfolg, desto größer die Verführung zur
Unfairneß. Das gilt nicht nur im Sport, sondern zum Beispiel auch in der
wissenschaftlichen Forschung, wie seit 20 Jahren in den USA, kürzlich
auch in Deutschland (dessen Wissenschaft man allzulange für gänzlich
"rein" hielt) öffentlich ersichtlich wurde. In der Wissenschaft gibt es
nicht einmal Silbermedaillen - wie wenigstens im Sport. Es muß übrigens
nicht immer um Geld gehen, sondern auch Reputation, Ansehen des
Erfolgreichen, ja, die alte "Ehre" sind gegebenenfalls genauso umkämpft.
Kontrollen und Kontrollinstitutionen werden unerläßlich, wenn die Regeln
zunehmend übertreten werden, kaum noch greifen und zumal informelle
Fairneß vielfach schon geradezu als "Dummheit" hingestellt wird: Das
sogenannte "faire" oder taktische Foul wird bei jungen Fußballern
bereits systematisch eingeübt! (Auf die Doppelbödigkeit, ja, zum Teil
Doppelzüngigkeit der Diskussionen in der Dopingszene kann hier nicht
eingegangen werden.)
8. Herkömmlich meinte man –
und konnte das auch in den 50er Jahren in Australien nach den
Olympischen Spielen von Melbourne und ebenso in Europa empirisch
bestätigen –, daß Vorurteile gegenüber anderen Völkern und Hautfarben
durch den internationalen Sport, zumal durch das zuschauende Miterleben
der Olympischen Spiele, verringert würden, besonders bei jugendlichen
Zuschauern. Dies ist zweifellos ein wichtiger Beitrag zur indirekten
Völkerverständigung in Gestalt des Abbaus von Fixierungen oder
Vorurteilen. Dies ist zwar keine direkte Friedensmission – wie etwa Schelsky meinte –, obwohl das Fremdverstehen, die Toleranz, ja,
Hochschätzung der athletischen Vertreterinnen) anderer Nationen dadurch
ohne Frage beeinflußt werden dürften. Auch das aktive Kennenlernen von
Sportpartnern aus anderen Ländern ist hier zu nennen. Dies ist natürlich
von begrenzter Wirkung und erstreckt sich nicht auf weitere Teile der
Jugend. Für Coubertin, den Wiederbegründer der modernen Olympischen
Spiele, war es ein Hauptziel, die gegenseitige Achtung der Völker und
zumal der Jugend auf diese Weise zu fördern (auch wenn er weitergehende
Ansprüche der "liebenden" Völkerverständigung für lächerlich hielt;
hingegen war er ein Vertreter der antiken Idee der Waffenruhe bei
Olympischen Spielen!).
9. Die Identifikation mit der
eigenen Mannschaft (lokal oder national), mit dem stellvertretend
kämpfenden Athleten der eigenen Gemeinde oder Nation ist ein Effekt, der
zum als wertvoll erlebten und auch nötigen Gemeinschaftsgefühl auf
unterschiedlichen Ebenen beiträgt und besondere Gefühle des Mitfieberns
oder gar Leidenschaften weckt. Dies alles trägt zum Spannungswert der
Sportwettkämpfe – gerade auch im televisionären Spektakel – bei. Zumal
jüngere und kleinere Nationen identifizieren sich demonstrativ mit ihren
sportlichen Repräsentanten: Im Konzert der weltweit im Vordergrund
stehenden großen Nationen ist es für kleine Völker ein eher erreichbares
Ziel, eine positive Meinung in der Weltöffentlichkeit durch sportliche
Hochleistungen zu erreichen. Man denke etwa an die als besonders
sportlich geltenden Völker wie die Ungarn oder die Finnen einst und an
die kenianischen Läufer heute.
10. Dynamik, Spannung,
leichte Einsehbarkeit für den Zuschauer, Telegenität mancher Sportarten,
das direkte Messen in Kampfsportarten ergeben generell spannende Duelle.
Herausragende Wettkämpfe sowie in manchen Sportarten Rekordversuche
erhöhen den Spannungs- und Unterhaltungswert des Hochleistungssports und
die Fernsehattraktivität – und damit die tele- und medienökonomische
Nachfrage der jeweiligen Sportarten.
11. Entsprechendes gilt für
Bewegungsrhythmus, für Schönheit in den auch besonders
öffentlichkeitswirksamen ästhetischen Sportarten wie Eislaufen, Turnen
oder Tanzsport.
12. Aus der Sicht der
Zuschauer hat man seit den 60er Jahren (seit Roland Barthes' epischer
Eloge auf die Tour de France) die mythische Funktion des modernen
Hochleistungssports für Zuschauer, auch für alle televisionär
Mitfiebernden und Nacherlebenden, beschrieben. Ich selbst habe 1972 in
"Leistungssport - Ideologie oder Mythos?" und 1985 in "Die achte Kunst"
diese mythische Funktion auf das Eigenleben der Athleten ausgeweitet und
eine quasi-"mythologische" Deutung der sportlichen Leistung (zum
Beispiel für das, was der Mensch mit weitgehend "natürlichen" Mitteln zu
erreichen vermag), für das Eigenerleben des Athleten und für die
Leistungssteigerung ausgearbeitet.
Diese gleichsam mythische
Dramatik und Dynamik könnte als ein eigener Wert von gewisser
anthropologischer Bedeutsamkeit angesehen werden, geradezu als Sinnbild
menschlicher "natürlicher" Leistungskraft ohne oder mit nur geringen
technischen Hilfsmitteln. Den Leistungssport könnte man geradezu
definieren durch das Setzen künstlicher Hindernisse oder
Standardisierungen, die nur mit Beteiligung von weitgehend natürlicher
Leistungskraft und Konzentration in möglichst effizienter
(beispielsweise möglichst schneller) Weise zu überwinden sind. (Die
Technik erfindet demgegenüber künstliche Umwege, zum Beispiel
Flugmaschinen, um etwa sonst gar nicht erreichbare Ziele zu
realisieren.)
Der RRK-Doppelvierer mit Jörg Herzog, Martin Kraft, Benjamin Michel und
Andreas Klepper ist Deutscher Meister 2009 im Rudersprint
|
13. In Abhängigkeit von der
Spannung, Telegenität und auch von hochstilisierten nationalen
Traditionen (etwa US-Football) sind sportliche Dramen, einem modernen
Massentheater vergleichbar, ökonomisch hoch interessant geworden – nicht
nur durch das diese Wirkung vervielfachende Fernesehen. Mit dieser
ökonomischen Entwicklung des Sports geht die stark um sich greifende
offizielle Professionalität einher, die in vielen Sportarten - bei
weitem aber nicht in allen! - die traditionelle Amateurregel und
-mentalität eingeschränkt hat, wenigstens in der großen Publizität der
Medien. Sport ist wie Tourismus ein bedeutender Wirtschaftsfaktor
geworden, der nicht nur einen großen Unterhaltungs- und Erfolgs- sowie
Leistungsmarkt hervorgebracht hat, sondern auch eine entsprechende
Industrie erzeugte (zum Beispiel Sportgeräte für Spitzenathleten und,
entsprechend der Werbewirksamkeit, auch für alle Freizeitsportler).
Gerätemärkte, Werbungsimages, kurz: eine im Hochleistungssport zunehmend
allumfassende Kommerzialisierung führen dazu, daß Sporthelden als
lebende Litfaßsäulen auftreten und ihre augenfälligen Werbemarken bei
der Siegerehrung, wenn nicht schon im Rennen, präsentieren. Die
Ökonomisierung und Kommerzialisierung des modernen Hochleistungssports,
aber zunehmend auch des Breitensports, würde eine eigene Abhandlung
erfordern.
14. Hatte schon Barthes seine
meines Erachtens einseitige Deutung des Sportepos (am Beispiel der Tour
de France) als inszenierten und dramatisch präsentierten geradezu
"mythischen" Kampf von Heldenrollen gegen Gegner und Natur aufgefaßt, so
kennzeichnen die mediale Publizierung, Verbreitung und Kommunikation,
die Leistungspräsentation und die dementsprechende Inszenierung von
Superwettkämpfen, zumal in der besonders spannenden, weil weltweit
präsenten Femsehdarstellung, zunehmend den Hochleistungs- und
Spitzensport. Dies führt nicht nur aus ökonomischen Gründen, sondern
auch aus solchen der faszinierenden telegenen "Omnipräsenz", dem
Überallgegenwärtig- und -dabeisein, über Kontinente hinweg in
dramatischer Zuspitzung der hochrangigen Wettkämpfe (Olympia,
Weltmeisterschaften, Länderkämpfe) zu einer eigenen telemedialen,
weltumspannenden Eigenwelt der sportlichen Präsentation, die sich den
Wettkämpfen, den Zuschauererwartungen und den Athleten selber immer mehr
aufzudrängen droht: Wettkampftermine nach Prime-time-Fernseh-Bedingungen,
eigene Sportfernsehkanäle und so fort. Dies hat erhebliche Weiterungen
für die ökonomische Verortung und Verwertung der Sportarten und ihre
öffentliche Attraktivität im Sinne weiterer Kommerzialisierung,
Ökonomisierung und Mediendominanz.
Helmut Digel hat in einem
Aufsatz besonders den "Modernisierungsdruck" hervorgehoben, dem fast
alle Sportarten heute unterliegen: Die Verbände müssen alles tun, um "Telegenität",
"Aufmerksamkeitstransfer" und Zuschauerbindung zu erreichen, indem sie
Zusatzinszenierungen, besonders telegene Wettkämpfe, Rekordankündigungen
und so weiter in einer neuen Art von Wirkungsästhetik demonstrativ
organisieren beziehungsweise inszenieren, wobei "der Athlet ... hierbei
eine nachgeordnete Bedeutung" erlangt. Anscheinend ist dieser geradezu
Rimbaudsche Modernisierungsdruck ("Il faut être absolument moderne!")
überwiegend auf Telegenität, Zuschauerfaszination und -bindung sowie
ökonomischen Output hin orientiert. Die mediale Kommunikation und zumal
die Fernsehwirkung wie die Zuschauerattraktion stehen also
offensichtlich als ein absolutes "Muß" des Sports im Vordergrund. Sogar
elitäre und "demonstrative Distinktion", "soziale Segregation" der VIPs
- oder gar WIPs -, fuhren dazu, daß der Sport "zunehmend seine
gesellschaftspolitische Legitimation verliert, die im wesentlichen in
der Integrationsfunktion des Sports zu sehen war und gewiß auch in der
weiteren Zukunft gesehen werden sollte".
15. Inszenierung, öffentliche
und vor allem televisionäre Präsentation, elitäres Dabeisein und
Dazugehören zum Auserwähltenzirkel oder -zirkus gehören offenbar in den
meisten publizitär interessanten gesellschaftlichen Bereichen zum
demonstrativen gesellschaftlichen Dasein und Gesehenwerden hinzu.
Dieser zuletzt genannte
Effekt der showmäßigen Inszenierung und Hochbewertung, ja, der
Überbewertung des Hochleistungssports dürfte zum Teil eine Gefahr für
die oben genannten, mehr am einzelnen und der kleinen Sportgruppe
orientierten, wenn auch eher ideal deren Vorbildwirkung
herausstreichenden Spektrum der Werte sein. Zweifellos ist dies "ein
wesentlicher Teil der durch den Zeitgeist geprägten Wettkampfkultur" (Digel);
jedoch ist dies keineswegs der ganze Sport, nicht einmal für den
verständnisvollen Zuschauer noch für den trainierenden Athleten, obwohl
die Tendenzen und deren Wirkkraft nicht zu leugnen sind.
Wenn sogar so
verständnisvolle Verbandspräsidenten wie der deutsche
Leichtathletikpräsident sich dieser Überwertigkeit der publizitären
Präsentationseffekte und der Ökonomisierung, verbrämt als notwendiger
"Modernisierungsdruck", geradezu vorlaufend anpasserisch unterwerfen, so
besteht doch wohl allgemein eine nachdrückliche Gefahrdung der
traditionellen Grundwerte der sportlichen Eigenaktivität, der
Eigenleistung und der in Sportgruppen und Mannschaften geschulten
gesellschaftlichen und fairneß moralischen Werte – ein Anlaß, diese
gegen den Geist der Zeiten wieder einmal hervorzuheben.
Sport hat einen weiten Magen
und bedeutet Vieles, nicht nur Spektakel, Konsumtion, Präsentation,
Inszenierung und Ökonomisierung oder Telefaszination. Sport verfügt auch
über eigene Basis- und Erziehungswerte – nach wie vor –, selbst wenn
diese angesichts der allzusehr auf den Hochleistungssport konzentrierten
Diskussion notorisch ins Abseits geraten. Wie eh und je liegt die
grundliegende Rechtfertigung sportlicher Eigenbetätigung in den
persönlichkeitsbildenden, erzieherischen und in Kleingruppen geschulten
Entwicklungs- und Förderungsmöglichkeiten (einschließlich der
Vorbildwirkung). Gerade dies sind wichtige gesellschaftliche Werte, von
denen unsere Gesellschaft um so mehr abhängt, als sie diese nicht
Institutionen erzwingen kann und in der erwähnten Inszenierung und Show
ignoriert.
Variieren wir hier
abschließend Erich Kästner, den 100-Jahr-Jubilar des Jahres: Im Sport
liegt immer noch viel Gutes – vorausgesetzt man tut es!" |