Das Rudern liegt den Kirschs im Blut ...
Siebzehnjährige Ulrike holt
WM-Silbermedaille nach Rüsselsheim / In DDR-Phalanx eingebrochen
Aus "Main-Spitze" vom 14.08 1981
uwe. - Wenn in der Schule die Rede auf die für ein Mädchen nicht unbedingt
alltägliche Sportart kommt, wird sie schon mal angepflaumt. "Brauchst wohl
Kraft?" heißt es dann, wenn Ulrike Kirsch sich wieder mal zum Rudertraining
verabschiedet. Seit dieser Woche sind die Frotzeleien seltener, die
anerkennenden Glückwünsche häufiger geworden - Ulrike Kirsch ist
Vizeweltmeisterin.
Der zweite Platz im Vierer des deutschen Ruderverbandes letzte Woche bei den
Junioren-Weltmeisterschaften im bulgarischen Pantscharewo nahe Sofia war für die
17jährige Rüsselsheimerin Höhepunkt einer Saison, zu deren Beginn man einen
solchen Abschluß kaum erwartet hatte. Immerhin war Ulrike gerade erst von den
B-Juniorinnen ins Lager der 17- und 18jährigen A-Juniorinnen gewechselt, wo sie
es in der Regel mit älteren und erfahreneren Konkurrentinnen zu tun hatte. Doch
der RRK-Leichtgewichtseiner schlug sich prächtig: Ulrike Kirsch sicherte sich
eine Reihe von Regattaerfolgen bis hin zum dritten Platz bei den Deutschen
Meisterschaften.
Keine Überraschung war es dann schließlich, als der Heilbronner Verbandstrainer
Horst Joppien die Rüsselsheimerin in den Kreis jener acht Ruder-Juniorinnen
berief, aus dem im dreiwöchigen Trainingslager in Lübeck die Mannschaft für die
WM formiert werden sollte. Trug man sich zunächst mit dem Gedanken, Ulrike
Kirsch im Doppelzweier zusammen mit der Ingelheimerin Maria Dürsch antreten zu
lassen, da beide ein harmonisches Team bildeten und schon hervorragende Zeiten
gefahren waren, so entschieden sich die DRV-Verantwortlichen schließlich doch
für die Nominierung eines starken Vierers, da hier die Medaillenchancen
gegenüber den starken Ostblockmannschaften am größten erschienen.
Ulrike Kirsch vom RRK
gewinnt 1981 mit dem DRV-Doppelvierer beim FISA-Junioren-Championat im
bulgarischen Pantscharewo nahe
Sofia die Silbermedaille (Ulrike Kirsch, Marion Dewald, Stfr. Sabine
Müller, Sonja Petri, Maria Dürsch) |
Endlaufteilnahme - das erwartete man von dem Vierer, der mit Maria Dürsch, Sonja
Petri aus Herdecke in Westfalen, der Karlsruherin Marion Dewald, Ulrike Kirsch
und Steuerfrau Sabine Müller (Saarbrücken) in Pantscharewo an den Start ging.
Die Medaillenhoffnungen wurden bescheidener, als man sah, wie stark der
Ostblock-Nachwuchs, vornehmlich die DDR, sich präsentierte. Bei den Jungen
holten sich die Ostdeutschen sämtliche ersten Plätze, und auch bei den Mädchen
war die DDR am stärksten einzuschätzen.
Das Boot der Bundesrepublik wurde im ersten Rennen Zweiter hinter Rumänien;
hatte dann aber im Hoffnungslauf keine Schwierigkeiten, sich mit einem erneuten
zweiten Platz hinter Bulgarien die Endlaufteilnahme zu sichern. "Der zweite
Platz war locker, wir hätten auch mit Abstand gewinnen können", beurteilt Ulrike
Kirsch die Fahrt; da Favorit DDR im ersten Vorlauf sogar eine Sekunde langsamer
war als das eigene Boot, stiegen nun plötzlich die Hoffnungen auf einen Erfolg
gegen die Favoriten. "Ich dachte erst, wir schlagen die DDR und Rumänien", war
Ulrike plötzlich siegessicher.
Im Endlauf am Samstag, bei dem in der Reihenfolge von Bahn eins bis sechs
Rumänien, Holland, die Bundesrepublik, die DDR, Bulgarien und Frankreich
antraten, schienen die Hoffnungen schon am Start zunichte: Sonja Petri kam mit
den Innenhebeln ihrer Skulls zusammen, verlor den Rhythmus. "Da war erst mal
Chaos im Boot, wir haben praktisch gestanden", erinnert sich Ulrike Kirsch. Erst
nach dem vierten Schlag kam das Boot in in Fahrt, machte sich an die Aufholjagd.
Nach einem Viertel der 1000-Meter-Distanz hatten die bundesdeutschen Mädchen das
Feld eingeholt, bei 500 Metern lag das Boot an dritter Stelle. Im Endspurt
schließlich kämpfte der deutsche Vierer Rumänien und Frankreich nieder und ging
mit der Zeit von 3:24,0 ins Ziel, das DDR-Boot, das mit 3:21,0 siegte, war nicht
mehr einzuholen. Dem bundesdeutschen Vierer, der die einzige Medaille bei den
Mädchen holte, war der Beifall der Zuschauer sicher: "Die haben geklatscht, weil
wir das einzige westeuropäische Land waren. Sonst hieß es bei jedem Rennen immer
DDR, UdSSR ..."
Der Erfolg in Bulgarien war für Ulrike Kirsch Lohn harter Trainingsarbeit, die
durchaus, so gibt sie zu, "nicht immer Spaß" gemacht hat. Unter der Obhut von
Sportlehrer Heiner Bindrim, der wie alle RRK-Trainer seinen Job ehrenamtlich
versieht, ging es im Winter bis zu viermal, später fünfmal die Woche ran. In der
"heißen Phase" vor den Meisterschaften wurden dann auch schon mal neun
Trainingseinheiten durchgezogen. Bindrim nahm Ulrike Kirsch, die, da der Vater
ruderbegeistert ist, schon mit sieben Jahren beim RRK angemeldet wurde, beim
Eintritt ins Juniorenalter unter die Fittiche: seit Juli 79 macht er mit ihr ein
leistungsbezogenes Training - in einem Alter, in dem in der DDR die Athletinnen
bereits aussortiert sind und sich in Sportinternaten quälen. Eine Sache, die der
RRK und auch der DRV ablehnen: im Kindesalter soll Rudern in erster Linie Spaß
machen, die Leistung soll dann erst bei den Junioren einsetzen. Für Ulrike
Kirsch ist das nicht zuletzt eine Frage der Familientradition: nachdem Bruder
Wolf-Rüdiger im letzten Jahr im DRV-Achter an der Junioren-WM teilnahm und
Fünfter wurde, war diesmal die Schwester an der Reihe ...